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Das Geheimnis der Krähentochter

Das Geheimnis der Krähentochter

Titel: Das Geheimnis der Krähentochter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Oliver Becker
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lange zurückliegenden Morgen.
    Erneut meinte sie das Geräusch
aufzuschnappen, bis es wieder von der kalten Luft geschluckt wurde. Sie war
sich nicht einmal sicher, ob sie es tatsächlich gehört hatte. Und doch war es
genau wie an jenem Morgen im Schwarzwald, sie konnte einfach nicht anders: Sie
spürte, wie Bewegung in ihren Körper kam.
    Vorsichtig öffnete sie die Tür ihres Zimmers. Sie trat in den
dunklen Flur, ihre nackten Füße schlichen über den kalten Boden. Du bist
verrückt, sagte sie sich selbst. Da war nichts, kein Summen, einfach gar
nichts.
    Doch wieder hörte sie es. Oder etwa nicht? Nur das Peitschen des
Windes von draußen? Ein Wind, der alle möglichen sonderbaren Laute in sich
trug?
    Bernina musste weitergehen.
    Sie folgte dem Gang, den sie mittlerweile schon oft
entlanggeschritten war, sie kannte die Zimmer, die sich an seiner rechten Seite
aufreihten, von denen ihres das erste war. Auch alle weiteren waren für Gäste
vorgesehen und wurden die meiste Zeit des Jahres nicht genutzt.
    Bernina näherte sich dem letzten der Zimmer – es war das
einzige, das ihr fremd war, in das sie nie einen Blick geworfen hatte. Wiederum
äußerst behutsam öffnete sie auch diese Türe.
    Sie setzte ihren nackten Fuß in den Raum, glitt ganz hinein. Ein
gemachtes, aber offenbar seit Längerem nicht gebrauchtes Bett. Ein Schrank. Ein
breites Fenster. Abgestandene Luft.
    Ein Zimmer ähnlich ihrem eigenen. Bernina blickte sich um. Der
Sturm hatte sogar noch an Gewalt zugelegt. Donnergrollen mischte sich in das
Fauchen des Windes. Plötzlich erhellte ein Blitz den Raum und tauchte die Wand
gegenüber von Bernina in ein rasch aufflammendes Licht.
    Sie stand da, vollkommen bewegungslos, ihre Augen auf diese Wand
geheftet, auf das große Gemälde, das daran hing.
    Selbst dann blickte Bernina noch auf das Gemälde, als es längst
wieder in Dunkelheit versunken war. Der Blitz, so kurz er auch gewesen war,
hatte gereicht, um die Einzelheiten des Kunstwerks in Berninas Augen zu
brennen.
    Offenbar hatte nicht nur der Reiter in Schwarz sie eingeholt,
sondern auch ein Kind. Ein kleines Mädchen in einem leuchtend hellblauen Kleid.
    Momente verstrichen, das Unwetter tobte, und nur langsam gelang es
Bernina, sich aus ihrer Starre zu lösen. Verwirrt und frierend rannte sie
zurück in ihr Zimmer, begleitet von neuerlichen Donnerschlägen, die sich näher
und näher in Richtung des Palastes zu schieben schienen. Immer noch verwirrt
schlüpfte sie unter die Decke, starrte in die Dunkelheit. Eigenartige Ahnungen
krochen unter ihre Haut, Bilder entstanden vor ihren Augen und verschwammen
gleich wieder.
    Bernina hatte das Gefühl, als befände sich noch etwas in diesem
Zimmer. Etwas, das fühlbar, jedoch nicht sichtbar war. Ihre Füße waren eiskalt,
und während sie die Beine anzog, fest an den Körper presste, erkannte sie, was
dieses Etwas war. Es war ihre eigene Vergangenheit, die sich wie eine dunkle
Wolke auf sie legte.
     
    *
     
    Mit ersten halbherzig geführten Gefechten nahm der Krieg sein
furchtbares Handwerk wieder auf. Kleineren Zusammenstößen folgten größere, die
gewiss bald von noch heftigeren abgelöst werden würden. Die Armeen hatten die
Monate des Winters genutzt, um ihre Verletzten zu pflegen und Nachfolger für
die unzähligen Gefallenen anzuwerben.
    Der Winter ging, der Krieg kehrte zurück. So wie es schon seit
beinahe 20 Jahren der Fall war.
    General Benedikt von Korth, der für den katholischen Kaiser
kämpfte, und General Arnim von der Tauber, der für die vereinigten
protestantischen Armeen in die Schlacht zog, hatten sich seit dem vergangenen
Herbst nicht mehr gegenübergestanden. Doch dabei würde es wohl nicht bleiben.
    Beide Seiten hatten ihre Armeen vergrößert und neu ausgerüstet.
Die nächste Runde in dem ewigen Todesspiel stand unweigerlich bevor. Gerüchte
machten bereits die Runde, dass es im Südwesten des Reichs irgendwann zu einer
entscheidenden Begegnung dieser unerbittlichen Gegner kommen würde. Gerüchte,
die sogar den Weg zu sehr unzugänglichen, abgelegenen Gegenden fanden und
schließlich auch bis nach Franken und Schloss Wasserhain gelangten.
    In den Parkanlagen rund um den Palast sorgten mittlerweile gelb
leuchtende Köpfe von Goldflieder für ein erstes Aufbrechen der Farblosigkeit.
Der Frühling schien also endlich die zähe Kälte in die Knie zu zwingen.
    Bernina erfreute sich von ihrem Fenster aus an den kleinen, immer
zahlreicher werdenden Goldflieder-Inseln. Das erinnerte

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