Das Geheimnis der Krähentochter
sie an den Frühling vor
einem Jahr, als sie zum ersten Mal auf den Planwagen zu Anselmo gestiegen war.
Voller Begeisterung war sie gewesen, voller Leidenschaft. Das neue Leben war so
verlockend gewesen.
Heute kam es ihr vor, als hätte sie seit jenem Tag gleich mehrere
neue Leben kennengelernt. Wie viel doch geschehen war. Und was sie alles mit
angesehen hatte. Dennoch spürte sie, dass ihr Weg noch keineswegs an einem
Endpunkt war, selbst wenn sie sich dem Leben eine ganze Zeit lang verweigert
hatte. Als sie am Morgen nach dem schrecklichen Sturm erwacht war, rätselte sie
zunächst, ob sie alles wieder einmal nur geträumt hatte. Die kaum wahrnehmbare
Silhouette des Reiters ebenso wie das Gemälde, das für einen kurzen Moment von
einem Blitz grell beleuchtet wurde. Bald nachdem die Sonne das erste Tageslicht
verströmt hatte, war sie aufgestanden, um erneut einen Blick in jenen Raum zu
werfen, in den es sie nachts geführt hatte.
Und von da an war sie immer wieder einmal rasch durch die Tür
geschlüpft, hinter der das Gemälde hing. Das Werk war ähnlich groß wie jenes,
das sie in dem von der hohen Mauer umringten Haus in Ippenheim gesehen hatte.
Schwer und verschnörkelt der Rahmen, kraftvoll die Farben, genau wie auf dem
anderen Bild. Wiederum wurde Ländlichkeit gezeigt, diesmal kein Wald, sondern
ein kleiner Brunnen, wie man ihn in zahllosen Dörfern sehen konnte.
Mit einem Arm auf den Brunnenrand gestützt, stand das Mädchen da.
Die zarte Gestalt mit dem blonden, geradezu golden schimmernden Haar. Diesmal
pflückte die Kleine keine Blume, sie trank aus einem anmutig gewölbten Händchen
vom Brunnenwasser.
Es war dasselbe Mädchen. Nicht einen Sekundenbruchteil hatte
Bernina daran auch nur den leisesten Zweifel gehabt. Sogar das Kleid war das
gleiche, von schöner hellblauer Farbe. Das Mädchen, das Bernina erstmals an dem
Morgen gesehen hatte, als die fremden Reiter den Petersthal-Hof verwüsteten.
Oder eben doch nicht gesehen.
Die Wirkung dieses Gemäldes war jedenfalls ebenso stark wie damals
in Ippenheim – oder wie die Zeichnung in dem rätselhaften Zimmer im
Gebäude des Petersthal-Hofes.
Bernina nutzte die nächste Gelegenheit, bei der sie mit der Gräfin
allein war, um mehr zu erfahren. Sie saßen sich wieder einmal in den schweren
Sesseln der Bibliothek gegenüber, jede von ihnen eine aufwendige Stickerei im
Schoß. Es war früher Nachmittag, die Sonne schien durchs Fenster. Bernina
wartete voller Ungeduld auf diesen Moment, seit sie früh am Morgen desselben
Tages erneut einen beinahe ehrfürchtigen Blick auf das Bild geworfen hatte.
Mit bemüht unbeteiligter Stimme erzählte sie Helene nun, dass sie
zufällig auf ein Zimmer gestoßen sei. »Dabei ist mir ein Bild aufgefallen«,
setzte sie hinzu, ihre Augen auf die Gräfin gerichtet, die gerade konzentriert
nach unten blickte und einen Faden durch ein Nadelöhr schob.
»Ein Bild?«
»Ja, dieses Gemälde. Es zeigt ein kleines blondes Mäd …«
»Ach, das Zimmer meinst du«, unterbrach Helene sie mit ziemlich
uninteressiert klingender Stimme. »Ich habe es schon seit einer Ewigkeit nicht
mehr betreten. Manchmal übernachtet darin der eine oder andere unserer Gäste.«
»Es ist mir aufgefallen.«
»Aufgefallen? Meine Liebe, das ist doch ein ganz gewöhnlicher
Raum.«
»Nein, ich meine das Gemälde. Ich habe schon einmal ein ähnliches
gesehen. Für mich sieht es so aus, als würden die Bilder von ein und demselben
Maler stammen und ein und dasselbe Kind zeigen.«
»Mmmh«, murmelte Helene gedehnt, noch immer nicht besonders
aufmerksam. »Viele Maler sind bekannt dafür, sich häufig dem gleichen Objekt zu
widmen. Was ist denn so Besonderes an den beiden Gemälden?«
»Ich weiß nicht recht. An sich überhaupt nichts, außer dass sie
sehr schön sind. Sie gefallen mir ganz einfach.«
Sie ließ eine Pause verstreichen, bevor sie fortfuhr. »Das erste
Gemälde, das mir auffiel, hing in Ippenheim. In einem Haus, das der Familie
Falkenberg gehört, wie mir der Oberst verriet. Damals habe ich ihn
kennengelernt. Und Sie, Helene, sagten mir, dass auch Schloss Wasserhain einst
im Besitz der Falkenbergs war.«
Erst jetzt sah die Gräfin von ihrer Handarbeit auf. »Ehrlich
gesagt, ist mir immer noch nicht klar, worauf Sie hinausmöchten.«
»Wer hat das Bild von dem kleinen Mädchen am Brunnen gemalt?«
Die Gräfin verzog die Lippen. Ein
nachdenkliches Heben und Senken der Schultern. »Ich weiß es nicht. Es hing
immer schon in diesem
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