Das Geheimnis der Krähentochter
galten
dem Brief. Sie trat an die Kommode, in deren oberster Schublade sie das rissig
gewordene Blatt Papier verstaut hatte. So viel verstand sie nun schon von
seinem Inhalt, von diesen wiederholten Bitten, diesem Flehen, von der
Verzweiflung, die in den Zeilen lag. Es fehlte nicht mehr viel.
Die Schublade gab wie immer ein leises Knirschen von sich, als sie
aufgezogen wurde. Bernina griff nach der Ledermappe, in der sie nicht nur die
Blätter mit ihren Schreibübungen sammelte, sondern auch den Brief versteckte.
Aber das Schreiben war nicht mehr da.
Bernina überlegte, holte Luft, blickte sich unschlüssig im Zimmer
um. Dann untersuchte sie erneut die Ledermappe. Sie hatte sich nicht geirrt.
Der Brief war weg. Mit einer ganz langsamen Bewegung legte sie die Mappe auf
die Kommode. Ein eigenartiges Gefühl breitete sich in ihr aus. Als würden
immerzu fremde Blicke auf ihr liegen, wohin sie auch ging, was sie auch tat.
Als würde sie von Augen beobachtet, in denen Verderben loderte, Augen des
Bösen.
Sie sah aus dem Fenster, hinaus in die auf einmal wie ein
schwarzer Vorhang herabfallende Nacht. Trotz der Hitze, die noch im Zimmer
stand, fröstelte sie. Kälte hüllte sie ein, nahm ihr den Atem.
*
Irgendwo im Westen, weit entfernt in Baden, tasteten sich die
Armeen des katholischen Kaisers und der protestantischen Vereinigung
aufeinander zu. Benedikt von Korth und Arnim von der Tauber bereiteten sich auf
den entscheidenden Schlag vor. Sie teilten ihre Soldaten noch einmal auf,
schoben sie Einheit um Einheit voran, bis es eines Tages zur Konfrontation
kommen musste.
Unweigerlich steuerte der Krieg auf sein nächstes großes Ereignis
zu, und die Welt hielt einmal mehr inne, erwartete einmal mehr eine Schlacht
von entsetzlichen Ausmaßen.
Auch auf Schloss Wasserhain liefen weiterhin die Vorbereitungen
für ein großes Ereignis. Die Gräfin erklärte, dass es für sie und ihren Gatten
eine Ehre sei, die Hochzeit des Obersts in ihrem Palast auszurichten. Jakob von
Falkenberg selbst hatte diesen Ort vorgeschlagen. Er ließ fast täglich Kuriere
mit Einladungen ausschicken, Einladungen an Offiziere, Freunde von früher,
Unterstützer des Kaisers. Er war schwungvoll und geistreich wie immer, schien
sich auf diesen Tag in der Tat unglaublich zu freuen. Bernina sah es an dem
Glanz in seinen Augen.
Einmal erkundigte sie sich, ob es nicht doch jemanden aus seiner
Familie gebe, den er bei der Hochzeit gerne sehen würde. Statt einer Antwort
machte Falkenberg eine abfällige Geste – die jedoch mehr sagte als Worte.
Also fragte Bernina ihn nicht mehr. Dafür sprach er sie darauf an, wen sie noch
einzuladen gedenke. Sie wusste nichts zu erwidern. Niemand fiel ihr ein –
bis auf Melchert Poppel.
»Wirklich?«, vergewisserte er sich spöttisch. »Der Knochenschneider?«
»Selbstverständlich«, bekräftigte Bernina.
»Na schön. Wenn es dir eine Freude macht.«
»Melchert Poppel hat dir das Leben gerettet«, erinnerte sie ihn.
Sofort verschwand das Spöttische aus Falkenbergs Blick. »Nein,
Bernina«, widersprach er ebenso ruhig wie ernsthaft. »Du hast mir das Leben
gerettet. Du allein.«
»Damit wickelst du mich gewiss nicht ein«, erwiderte sie –
lächelte aber. »Lade ihn bitte ein. Und zeige endlich etwas Dankbarkeit ihm
gegenüber. Er ist ein außergewöhnlicher Mann, und als er sich um deine
Verletzungen kümmerte, hat er Großartiges geleistet.«
»Dein Wunsch ist mir Befehl.« Er verneigte sich gespielt huldvoll.
»Ich werde dafür sorgen, dass er eine Einladung erhält.«
Es war kurz nach diesem Gespräch, als Bernina die Bibliothek
betrat und damit eine Unterhaltung zwischen der Gräfin und dem Grafen abrupt
unterbrach. Helene und ihr Mann sahen ihr entgegen, die Lippen allzu auffällig
zusammengepresst.
»Habe ich euch gestört?«
Doch sie erhielt keine Antwort, die Situation wurde überspielt.
Bernina maß ihr keinerlei Bedeutung bei, bis es zu einem ähnlichen Vorfall kam.
Diesmal beendeten der Oberst und Helene ein Gespräch, als Bernina sie
überraschend in der Einganghalle des Palastes antraf.
Es waren die Blicke der beiden, die sie stutzig werden ließen.
Bernina merkte es ganz deutlich. Sie sprach sie darauf an, aber die Situation
wurde einfach überspielt.
Getuschel. Bewegung. Eilig laufende Diener, plötzlich mehr
Wachsoldaten, die ganz offen die Flure von Schloss Wasserhain entlangschritten
und deren Absätze laut in der Stille nachhallten. Etwas war im Gange.
»Was ist
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