Das Geheimnis der Krähentochter
überhaupt nichts leid zu tun.« Falkenberg legte einen
Finger unter ihr Kinn und hob ihren Kopf leicht an. »Vertrau mir.«
»Das tue ich.«
»Soll ich dich jetzt lieber allein lassen? Ich könnte auch wieder
in meinem alten Zimmer schlafen.«
»Ja, bitte. Ich glaube, ich muss in Ruhe meine Gedanken ordnen.«
»Denk einfach an unsere Hochzeit.«
»Das tue ich.« Sie lächelte.
»Wenn du mich so ansiehst, würde ich alles für dich geben.«
Mit diesen Worten ließ er sie allein. Sie blickte aus dem Fenster.
Entschlossen nahm sie sich vor, sich nicht wieder so leicht aus dem
Gleichgewicht bringen zu lassen. Nicht von diesem Mann, der sich womöglich
irgendwo dort draußen in der Nacht aufhielt und seine bösartigen Augen auf Schloss
Wasserhain lenkte. Was auch immer er vorhaben, wer immer er sein mochte, sie
durfte sich nicht von ihrer Angst beherrschen lassen.
Als Bernina sich bald darauf in ihrem Bett ausstreckte, konnte sie
sich nicht entspannen. Sie starrte in die dunkle Leere über ihr. Kein Geräusch,
kein Laut drang zu ihr, der Palast lag in tiefster Stille. Ihre Gedanken
kehrten zurück zu dem Mann, den sie heiraten würde. Sie dachte an die vielen
Gespräche, die sie geführt hatten, rief sich etliche seiner Worte, seiner Blicke
in Erinnerung. Und sie dachte an den verschwundenen Brief.
Wer mochte ihn genommen haben? Es kamen nicht viele dafür infrage.
Bernina entschied, dass sie nicht länger zögern, sondern Falkenberg auf dieses
Schreiben ansprechen würde. Er hatte es erhalten und damals in Kraubach neben
seinem Bett verstaut. Als sie vor Kurzem jedoch Schwert und Blume ihm gegenüber
erwähnte, hatte er keinerlei Reaktion gezeigt.
Du siehst wirklich überall Gespenster, schimpfte Bernina in
Gedanken mit sich selbst und dachte auf einmal an die Krähenfrau, die sie
unablässig vor Dämonen und bösen Geistern gewarnt hatte.
Schließlich fielen ihr die Augen zu, sie
merkte, wie sie von Müdigkeit eingehüllt wurde, wie der Schlaf sanft über sie
kam.
Vollkommene Dunkelheit, vollkommene Stille. Jedenfalls beinahe.
Denn da war ein Geräusch. Ein leises, sich ständig wiederholendes Geräusch.
Bernina öffnete die Augen, blickte in das Nichts, das sie umgab. Das
Geräusch – immer noch. Oder träumte sie nur?
Mühsam erhob sie sich vom Bett. Das Geräusch erstarb – und
endlich war ihr klar, worum es sich dabei handelte. Um ein Klopfen an ihrer
Tür.
»Ja?«, fragte sie misstrauisch.
»Lass mich rein.« Es war Helene.
Ein paar Augenblicke später saßen sie sich, beleuchtet vom
Flackern einer Kerzenflamme, auf den Sesseln beim Fenster gegenüber.
Nie zuvor war Helene zu einer solch frühen Tageszeit vor Berninas
Tür aufgetaucht. Der Gräfin war anzusehen, dass sie kaum oder gar nicht
geschlafen hatte. Irgendetwas lag ihr auf der Seele.
»Ich wollte dich wirklich nicht wecken, Bernina, aber ich habe
stundenlang nachgegrübelt, und ich weiß einfach nicht, ob ich mit dir sprechen
soll oder nicht.«
»Worum geht es?«
»Am Ende stürze ich dich in heillose Verwirrung, und es stellt
sich heraus, dass alles nur …«
»Worum geht es?«, wiederholte Bernina. So durcheinander hatte sie
Helene noch nie gesehen.
»Also, es geht um …«
»Um den Landstreicher«, beendete Bernina den Satz instinktiv.
»Ja.« Helene blickte sie an. »Falkenberg hat dir von ihm erzählt,
nicht wahr?«
»Du weißt, dass er das hat.«
»Er hat dir von ihm berichtet, um dich zu beruhigen, und glaube
mir, ich will dich gewiss nicht wieder in Furcht versetzen.« Sie seufzte.
»Schon gar nicht so kurz vor deiner Hochzeit.«
»Was ist los, Helene?«
»Also.« Die Gräfin holte tief Luft. »Als der Soldat uns darauf
aufmerksam machte, einen verdächtigen Fremden gesehen zu haben, bat der Oberst
mich und meinen Gatten, dir nichts davon mitzuteilen. Er wollte dich nicht
unnötig aufregen. Ich habe das gut verstanden.«
»Das weiß ich bereits, aber wie ging es weiter?«
»Dann, als der Fremde gefasst war, also dieser Landstreicher,
hatte Falkenberg wiederum eine Bitte. Es war ihm wichtig, dass du den Mann
nicht zu Gesicht bekommst. Er wies mich an, dafür zu sorgen, dass du nicht auf
die verrückte Idee kommst, den Mann sehen zu wollen. Ich fragte ihn, warum, und
erneut erklärte er mir, du hättest in der Vergangenheit genügend Aufregungen
erlebt und solltest dich nur mit deiner Hochzeit beschäftigen.«
»Das hat er gesagt?«
Die Gräfin nickte. »Außerdem bekam ich mit, dass Falkenberg es
eilig hatte,
Weitere Kostenlose Bücher