Das Geheimnis der Krähentochter
Nachthemd, ein Geschenk Jakob von
Falkenbergs, schob sie sich aus dem Bett. Ihre nackten Fußsohlen berührten das
Holz des Bodens behutsam. Als sie das einzige Fenster des Zimmers erreichte,
schüttete es von Neuem. Der Regen wurde lauter, seine Nässe schwebte in Wolken
vor der Scheibe.
Bernina ließ ihren Blick durch die Nacht wandern, die von einer
schmalen Mondsichel nur schwach erhellt wurde. Der kalte Schauer war noch immer
unter ihrer Haut, und als sie die Silhouette des Reiters erblickte, wusste sie,
was sie so unruhig werden ließ. So lange hatte sie seine Anwesenheit gespürt,
aber nie derart deutlich wie in diesem Moment.
Sie starrte auf den Mann, der seinem Pferd auf einmal die Hacken
in die Seiten schlug.
»Jakob!«
Der Fremde ritt weiter, auf den Haupteingang des Palastes zu, dann
warf er etwas in Richtung des Tores. Was das war, konnte Bernina nicht
erkennen.
»Jakob!«
Der Reiter riss sein Pferd herum, schien einen Blick zu Berninas
Fenster zu schicken, und erneut trieb er das Tier mit einem kräftigen Tritt
seiner Hacken an.
»Jak-«
»Ich bin da!« Seine warme Hand berührte ihre eiskalte.
»Dort! Das ist er!«, rief Bernina und wies mit der anderen Hand
nach draußen, wo sich die Umrisse des Reiters mit der Finsternis der Nacht
vermischten.
»Wo? Wer?« Falkenbergs Stimme klang nicht etwa schlaftrunken,
sondern konzentriert, er war offenbar sofort hellwach.
»Der Reiter«, antwortete Bernina atemlos. »Er war da. Ich habe ihn
gesehen.«
»Ich nicht.«
»Aber es gibt einen Beweis dafür, dass er da war.«
»Einen Beweis.«
»Ja, er hat etwas vor den Eingang geworfen. Ein Bündel. Oder eine
Tasche. Ich weiß nicht, was es ist.«
»Ich werde sofort nachsehen.«
Er griff nach einer Büchse mit kurzem Lauf, die er vor Kurzem in
ihrem Zimmer deponiert hatte, und war schon im Flur verschwunden, nur mit
seinem weißen leinenen Nachtüberwurf bekleidet.
Während sie auf ihn wartete, die Blicke immer noch gespannt nach
draußen gerichtet, spürte Bernina das Klopfen ihres Herzens ganz deutlich.
Dieser Reiter. Dieser Reiter in Schwarz. Ihre Gedanken rasten. Nur um etwas zu
tun, entzündete Bernina eine Kerze, deren Flamme den Raum in ein mildes Licht
tauchte.
Dann stand Falkenberg wieder mitten im Zimmer, das Haar und das
Nachtgewand nass vom Regen. Auch die Manschette, die seinen linken Arm
abschloss, glänzte vor Nässe. Mit der Rechten legte er die Büchse auf einer
Kommode ab.
»Wo ist es? Was hat der Mann vor den Eingang geworfen?«
Ein kurzes Schulterzucken, ein Blick, den Bernina nicht
einzuschätzen vermochte. »Ich habe nichts finden können«, erwiderte der Oberst
lapidar.
»Das kann nicht sein.«
»Ich habe alles abgesucht, da war nichts«, erklärte er ganz ruhig
und setzte sich aufs Bett.
»Aber ich habe es doch genau beobachtet.« Sie verstummte. »Ich
werde selbst nachsehen.«
»Ich will nicht, dass du dich mitten in der Nacht da draußen
zeigst. Aber wenn du möchtest, können wir uns morgen in aller Frühe noch einmal
gemeinsam auf die Suche machen.«
»Ja, das möchte ich.«
Doch auch die Suche am folgenden Morgen
brachte nichts zutage. Bernina war ratlos. Sie wusste einfach nicht, was sie
glauben sollte. Auch wenn Falkenberg erst dafür war, niemandem von dem Vorfall
zu erzählen, sprach Bernina am nächsten Tag mit Helene darüber. Die Gräfin
schenkte ihr diesmal offenbar mehr Glauben und befragte gleich darauf die kleine
Gruppe von Wachsoldaten, die den Palast beschützte. Obwohl keinem von ihnen
etwas aufgefallen war, bat Helene den Oberst ihre Anzahl zu erhöhen.
Weitere Soldaten wurden abkommandiert, sodass
der Palast Tag und Nacht überwacht wurde. Mit Bernina sprach der Oberst jedoch
nicht wieder über den seltsamen Vorfall, und sie fragte ihn nie, ob er ihren
Erzählungen Glauben schenkte.
Allerdings brach Falkenberg nun häufig allein zu abendlichen
Ausritten auf, immer nach Einbruch der Dunkelheit, bewaffnet, eine aufrechte
Gestalt auf einem eleganten Hengst, aufmerksam die Umgebung betrachtend. Bei
seiner Rückkehr hatte er indes nie etwas Besonderes zu berichten. Niemals
begegnete er jemandem, niemals sah er die Umrisse eines verdächtigen, dunkel
gekleideten Mannes, der ein schwarzes Pferd ritt.
Etwas anderes drängte ohnehin bald alles in den Hintergrund. Es
galt, eine Hochzeit zu organisieren. Nicht einfach nur eine Hochzeit, sondern
eine Feier, die jede bisherige Vermählung, ja überhaupt jedes andere Fest in
den Schatten stellen sollte.
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