Das Geheimnis der Krähentochter
war überzeugt, ihn für
immer verloren zu haben.« Bernina blickte vor sich hin, dachte an den Moment,
als der Oberst ihr den Ring übergeben hatte. Die erste Träne stahl sich auf
ihre Wange. »Aber als du seinen Namen sagtest, auch ohne ihn auszusprechen, in
diesem Gewölbe, als ich auf der Leiter stand, da fühlte ich, dass ich wieder
Hoffnung haben darf. Dass er lebt. Ich wusste es.«
Eusebio meinte mit veränderter Stimme: »Allerdings geht es Anselmo
nicht gut.«
»Was ist mit ihm?«, fragte sie, nun schon wieder erschrocken.
»Er ist verletzt worden.«
»Mein Gott! Wie schwer?«
»Er wird es schon schaffen.«
»Mein Gott«, stieß sie erneut aus.
»Auch Poppel hatte Hoffnung.«
Vollkommen erstaunt starrte Bernina ihn an. »Poppel? Was hat er
damit zu tun? Ich verstehe kein Wort.«
»Entschuldige, Bernina, ich glaube, ich muss einfach der Reihe
nach erzählen.« Er blickte sich um. »Aber sollten wir nicht erst noch ein Stück
weiterreiten? Die Soldaten durchkämmen bestimmt die Wälder, nachdem sie uns
verloren haben.«
»Erst muss ich wissen, was passiert ist. Was ist mit Poppel? Und
mit Anselmo? Und mit dir? Wie kommt es, dass du hier bist?«
»Wir reiten weiter«, beharrte er. »Nicht so schnell wie zuvor,
dann kann ich dir schon nebenher einiges berichten.«
Rasch saßen sie auf, dicht nebeneinander lenkten sie die Pferde.
»Also, es war so«, begann Eusebio. »Damals, als mich die Panik
packte, als ich meine Nerven verlor und dich und den Arzt im Stich gelassen
habe, lief ich planlos durch die Wälder. Tagelang, ohne einen Gedanken fassen
zu können. Ich wusste nicht, wohin, am liebsten wollte ich sterben. Bauern
fanden mich irgendwann halb verhungert am Rande eines ihrer Felder. Sie nahmen
mich auf, gaben mir zu essen. Erst war ich erleichtert, überhaupt überlebt zu
haben.«
Gespannt hörte Bernina ihm vom Rücken ihres Tieres aus zu. In ein
paar Tagen sollte ihre Hochzeit stattfinden – doch jetzt war es, als wäre
sie von einer Lawine unerwarteter Ereignisse überrollt worden.
»Aber diese Bauern«, fuhr er fort, »verkauften mich für ein paar
Münzen an Soldaten der kaiserlichen Armee, die auf der Suche nach brauchbaren
Männern waren, um sie unter einem Vorwand gefangen zu nehmen und dann unter
Zwang als Arbeitskräfte einzusetzen.«
»Du warst wieder in Gefangenschaft?«
»Ja, aber ich sah das als gerechte Strafe an.
Dafür, dass ich einfach weggerannt war wie ein verdammter Schwächling. Ich zog
mit einer Infanterieeinheit quer durch die Lande. Das war seit dem letzten
Herbst mein Leben. Ich musste Lasten schleppen, Ausrüstungen reparieren,
Schutzgräben ausheben. So kam ich nach Offenburg. Auch dort wurden Gräben
ausgehoben. Alle redeten von einer neuen großen Schlacht, die bald kommen
würde. Eines Tages stand plötzlich Poppel vor mir. Zuerst dachte ich, er wäre wütend
auf mich wegen meiner Flucht.«
»Aber das war er nicht«, war sich Bernina sicher.
»Richtig. Poppel war wiederum sehr gut zu mir. Er sorgte dafür,
dass ich ihm erneut als Gehilfe unterstellt wurde. Ich war ihm wirklich dankbar
dafür. Und dann eröffnete er mir, dass er auf der Suche nach Anselmo sei.«
»Nach Anselmo?«
»Ja, er erzählte, er hätte sich überall nach ihm umgehört, Fragen
nach ihm gestellt, aber er konnte keine Spur von ihm finden. So war er auch
enttäuscht, dass ich inzwischen ebenfalls nichts gehört oder gesehen hatte.«
Ein Gefühl von Wärme stieg in Bernina auf. Poppel war unglaublich,
ein wahrer Freund, viel mehr als das. »Wie ging es weiter?«
»Poppel hat in Offenburg ein Lazarett eingerichtet. In einem leer
stehenden Gebäude behandelt er Verletzte und Kranke. Und in einem bewachten
Stockwerk sogar Gefangene der kaiserlichen Armee.«
Bernina sah erwartungsvoll zu ihm herüber. »Was geschah dann?«
»Eines Morgens, es war vor ein paar Wochen, kam Poppel sehr
aufgeregt auf mich zugelaufen. Er wollte, dass ich mitkomme: zu einem
Verletzten, den man eben ins Lazarett gebracht hatte.
»Anselmo«, flüsterte Bernina.
»Poppel war wirklich außer sich, und ich konnte ihm gar nicht
schnell genug durch das Haus folgen. ›Die Beschreibung passt!‹, rief er immer wieder.
›Du musst dir diesen Mann ansehen.‹« Eusebio blickte sie mit ernsten großen
Augen an: »Und tatsächlich: Auf einem Lager aus Stroh lag Anselmo.«
»Wie schwer ist er verletzt?«
»Es ist eine Schussverletzung.«
»Eine Schussverletzung! Aber er kommt doch durch, oder?«, rief
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