Das Geheimnis der Krähentochter
erreichte den Flur, an dessen Ende sich die unauffällige Tür
befand. Nun konnte sie sich nicht mehr beherrschen. Bernina rannte, den Blick
auf das Schloss und den Riegel gerichtet.
Wenn hier abgeschlossen war, musste sie durch den gesamten Palast zurückeilen.
Ein langer Weg, möglicherweise ein zu langer Weg, um ihn zum zweiten Mal
unentdeckt zurücklegen zu können.
Sie war so schnell, dass sie beinahe gegen die Tür prallte. Mit
angehaltenem Atem legte sie ihre freie Hand auf den Riegel.
»Bitte«, sagte sie ganz leise.
Der Riegel quietschte, als sie ihn kraftvoll zur Seite
schob – doch er ließ sich bewegen. Eine strahlende Sonne empfing sie.
Niemand war zu sehen. Bernina glitt an der Palastmauer entlang, spähte um die
Ecke. Sie schlich weiter, etwas langsamer. Jetzt erblickte sie die schmächtige
Gestalt des jungen Wachsoldaten. Er hielt in entgegengesetzter Richtung
Ausschau, wartete womöglich bereits auf seine vier Kameraden, die den
Gefangenen abholen würden.
Bernina schob ihren Körper vorsichtig zwischen den
Hagebuttensträuchern hindurch, aber sie konnte ein Rascheln nicht verhindern.
Der junge Mann drehte sich um – und sah genau in die Mündung
der Büchse mit dem kurzen Lauf. Der Oberst hatte sie für sich selbst in
Berninas Zimmer deponiert, als sie den geheimnisvollen Reiter in der Nähe des
Palastes gesehen hatte. Wohl nie hätte er für möglich gehalten, dass Bernina
sie einmal benutzen würde.
»Lassen Sie Ihre Muskete fallen«, wies sie die Wache an. Der
Soldat machte große Augen, blickte immer wieder von ihr zu der Waffe. Dann aber
legte er seine Muskete auf der Erde ab.
»Um Himmels willen«, stammelte er.
»Öffnen Sie die Falltür.«
Nach einem weiteren bangen Blick in ihr Gesicht gehorchte er.
»Steigen Sie hinab und schicken Sie den Gefangenen nach oben.«
Hufgetrappel erklang, dumpfe Laute auf weicher Erde.
Bernina sah auf. Es war Helene, die die
Pferde brachte. Angesichts ihrer üppigen Statur rutschte sie überraschend
behände aus dem Sattel des einen Tieres. Das zweite hielt sie an den Zügeln.
»Da bin ich«, frohlockte sie.
»Ich wusste, dass du kommen würdest«, antwortete Bernina und sie
tauschten einen raschen, jedoch umso intensiveren Blick. Der Soldat öffnete die
Falltür und beeilte sich, unter der Erde zu verschwinden. Erleichtert ließ
Bernina die Büchse fallen.
Nur Augenblicke später erschien der Gefangene.
Er vergewisserte sich, dass außer den beiden Frauen keine Soldaten
zu sehen waren, dann kam er nach oben, um sofort die Falltür zu schließen und
zu verriegeln.
Bernina und Helene umarmten sich. »Danke«, flüsterte Bernina der
Gräfin leise zu. »Danke für alles.«
»Ich vertraue dir«, erwiderte Helene. »Was immer du vorhast, ich
wünsche dir viel Glück. Und dass wir uns eines Tages wiedersehen.«
»Das werden wir.«
Bernina schwang sich in den Sattel. »Nimm das andere Pferd,
Eusebio.«
Ohne ein Wort saß er auf.
Gemeinsam ritten sie los, und als sie die Sträucher ein Stück weit
hinter sich gelassen hatten, blickte Bernina über ihre Schulter zurück. Sie war
sich nicht sicher, aber sie glaubte in Helenes Augen Tränen gesehen zu haben.
Doch ihre Aufmerksamkeit wurde von jemand anderes in Anspruch
genommen.
Unweit der Falltür, die das Kellergewölbe verschloss, verdeckt von
einigen der Sträuchern, tauchte die schlanke Gestalt Jakob von Falkenbergs auf.
Wie von einer inneren Gewalt gelenkt, stoppte Bernina ihr Pferd mitten im
Galopp, während Eusebio weiterritt. Auch auf die Entfernung konnte Bernina das
Grau in Falkenbergs Augen erkennen. Sie wechselten einen Blick, in dem alles
lag, Feindschaft und Liebe, Zweifel und Vertrauen, pures Glück und tiefste
Traurigkeit.
Es war Falkenberg, der sich aus dieser seltsamen, unwirklichen
Starre löste. Er drehte sich um und gellte einen Befehl, und nur Momente darauf
erschien etwa ein Dutzend seiner Männer.
»Holt die Pferde!«
Bernina wandte sich ab, trieb ihr Pferd an, und schon bald hatte
sie den vorausgeeilten Eusebio eingeholt.
»Wir müssen schnell sein, Eusebio«, rief sie ihm zu. »Sie werden
gleich hinter uns her sein.«
Seine Antwort bestand aus einem kurzen grimmigen Nicken. Nebeneinander
galoppierten sie dahin. Bernina fühlte, wie der Wind ihr langes Haar wehen
ließ, wie das Tier unter ihr auf einen leichten Druck ihrer Hacken noch
schneller wurde. Hatte die Gräfin eine gute Wahl getroffen? Waren die beiden
Pferde ausgeruht und stark genug? Verfügten sie
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