Das Geheimnis der Krähentochter
sie
verzweifelt.
Eusebio nickte verhalten. »Poppel hofft es jedenfalls.«
»Er hofft es nur? Oder glaubt er daran?«
»Nun ja …« Eusebio wich ihrem Blick aus.
Sie stoppte ihren Hengst. »Sag mir die Wahrheit.«
Auch Eusebio brachte sein Pferd zum Stehen. »Anselmo war nur
einmal kurz bei Bewusstsein und hat sofort nach dir gefragt.«
Bernina musste weinen, Tränen trübten ihren Blick.
Sie hatte Anselmo fast aufgegeben und wie aus dem Nichts erwuchs
plötzlich die Chance, dass sie doch noch einmal in diese blauen Augen würde
blicken können. Und gleichzeitig war ihr klar, dass Eusebio noch nicht alles
erzählt hatte. Sie griff nach ihrem Umhang, den sie nach der Rast vor sich aufs
Pferd gelegt hatte, und trocknete mit dem Stoff ihre Augen und Wangen. Die
Sonne schien herab, und die angenehme Luft des Morgens hatte sich mittlerweile
mit Hitze gefüllt. Ein Tag wie die vorangegangenen – doch was würde er
noch bringen?
Weiter folgten sie ihrem ungewissen Weg, diesmal schweigend,
argwöhnisch in die Stille ringsum lauschend. Erst eine weitere Rast nutzte
Bernina, gleich nachdem sie von den Pferden abgestiegen waren, um neue Fragen
zu stellen. »Du musst mir von Anselmos Schussverletzung berichten. Wie kam es
dazu? Als Gefangener gerät man doch nicht unbedingt in Schießereien oder
Kämpfe. Oder ist er kein Gefangener mehr?«
»Ja und nein.«
»Was soll das heißen?«
»Anselmo hat neue Sprachen schon immer leicht gelernt. Auf unseren
Reisen hat er sich viel beigebracht. Immer war er es, der in den Städten
redete, Fragen nach dem Weg stellte, auf die Menschen zuging. Er kann sich in
vielen Sprachen und Dialekten unterhalten. Das blieb nicht unbemerkt, und da
die Armeen längst aus Söldnern aller Herren Länder bestehen, wurde er einem
Offizier unterstellt – als Übersetzer. Wie ich erfuhr, sind solche
Sprachmeister inzwischen in allen Einheiten gesucht.«
»Das heißt, er diente einem Offizier?«
»Ich weiß genauso gut wie du, wie sehr Anselmo Armeen immer
verabscheut hat, wie er Waffen und Gewalt verachtete. Aber der Krieg lässt keinem
von uns eine Wahl.«
Bernina nickte. »Du brauchst Anselmo nicht zu verteidigen,
Eusebio. Auch ich habe den Krieg kennengelernt.«
»Anselmo war von nun an nicht mehr bei den Gefangenen, sondern bei
dem Offizier. Und so kam es, dass er auch Gefechte aus nächster Nähe
miterlebte. Bei einem traf ihn eine Kugel.«
Bernina wandte sich erschüttert von ihm ab.
»Es ist mir nicht wohl, wenn wir zu lange Pausen einlegen«, gab er
zu bedenken. »Wir müssen in Bewegung sein, das ist besser.«
»Aber ich möchte alles erfahren, was du weißt.«
»Das wirst du auch.« Er griff nach den Zügeln von Berninas Pferd
und führte es zu ihr. »Doch nun brechen wir besser auf. Außerdem müssen wir
nicht nur nach den Soldaten Ausschau halten.«
»Wieso? Was meinst du?«
»Ich halte mich schon seit ein paar Tagen in
der Gegend auf.«
»Ja, aber warum nur hast du gezögert? Warum bist du nicht gleich
zum Palast gekommen?«
»Sieh mich doch an, Bernina«, fiel er ihr ins Wort. »Mir war klar,
dass man mich in meinen Fetzen nicht einlassen würde. Ohne Schuhe, mit
schmutzigen Füßen und zerrissener Kleidung.«
»Du hättest erklären können …«
»Ach, erklären«, unterbrach er sie erneut. »Du weißt, ich bin ein
Feuerschlucker, ein Gaukler. Ich kann nicht so einfach irgendetwas erklären.
Ich bin nicht Anselmo. Also wollte ich auf eine Gelegenheit warten, um dich
allein anzutreffen und dann mit dir zu sprechen. Aber wenn ich dich außerhalb
des Palastes sah, warst du meistens mit diesem Offizier zusammen, der uns jetzt
verfolgt. Ich kannte die Menschen im Palast nicht, und ich traute ihnen nicht.
Poppel hatte mir eingeschärft, auch dort vorsichtig zu sein.«
»Ja, jetzt verstehe ich dich.«
»Es war nicht leicht für mich. Einerseits war Eile geboten,
andererseits wollte ich keinen Fehler riskieren.« Er seufzte kaum merklich auf.
»Als sie mich dann schnappten, wollte ich alles aufklären, sagen, dass ich kein
Räuber oder Dieb bin. Doch sie ließen mich gar nicht zu Wort kommen. Der Oberst
wurde geholt. Er sah mich nur kurz an und machte sich sofort wieder davon. Da
dachte ich, es wäre vorbei und du würdest nie erfahren, wie es um Anselmo
steht.«
»Du ahnst nicht, wie dankbar ich dir für alles bin.«
»Das meine ich gar nicht. Denn eigentlich wollte ich dir gerade
etwas ganz anderes sagen. Es muss nichts bedeuten, aber man kann ja
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