Das Geheimnis der Krähentochter
herab.
»Was ist los? Ist die junge Liebe auf einmal erkaltet? Warum taucht der Oberst
nicht hier auf, wie ich es von ihm verlangte?«
»Das weiß ich nicht«, erwiderte sie zurückhaltend. »Womöglich bin
ich es ihm nicht wert, sich auf eine Erpressung einzulassen. Das ist ja wohl
Ihre Absicht.«
»Nein, verehrte Dame, keine einzige Münze fordere ich von ihm.
Aber das geht dich nichts an. Erzähl mir lieber, wer der Galgenvogel in deiner
Begleitung war, als dich meine Männer erwischten.«
»Das wiederum geht Sie nichts an.« So sehr sie auch noch von Angst
erfüllt war – es tat ihr gut, ihm eine solche Antwort zu geben.
»Auf einmal habe ich den Eindruck, dass du nicht nur äußerlich
eine reizvolle Person bist.« Seine Hand glitt über ihre Wange, ihre Haut von
seiner nur durch das Leder getrennt, und ihr Gesicht gefror. »Also, wer war der
Kerl? Ein heimlicher Liebhaber? Du wolltest dem Oberst irgendeinen Vagabunden
vorziehen? Und mit dem Burschen die Flucht antreten? Wie romantisch.« Zynisch
zog er das letzte Wort in die Länge.
»Das geht Sie alles nichts an«, erwiderte sie erneut. Doch sie
konnte ihm nicht länger in die Augen sehen, sie musste den Blick senken.
»Mir ist es auch herzlich egal«, zischte er, »was es mit dir auf
sich hat. Aber eines sage ich dir: Wenn du Falkenberg gleichgültig bist, nützt
du mir nichts.«
Er ließ den Satz verklingen, um schließlich nüchtern und gerade
deshalb umso eindringlicher hinzuzufügen: »Und dann wirst du sterben.«
*
Berninas Angst hatte sich verändert. Aus einer nebulösen, schwer
zu greifenden Furcht war nun eine allzu klare geworden. Die Todesangst, die sie
gepackt hatte, war etwas, das wie mit Händen zu greifen war. Der Graf forderte
etwas von Falkenberg, und wenn der Oberst nicht bereit war, auf diese Forderung
einzugehen, war es um sie geschehen.
Es kam allein auf Falkenberg an. Sie hatte ihm in die Augen
gesehen und war ohne Zögern davongeritten, einfach aus seinem Leben geflüchtet.
Bernina erinnerte sich genau an den letzten bitteren Blick, den sie beide
miteinander geteilt hatten.
Ausgerechnet er war jetzt ihre einzige Hoffnung, der Mann, den sie
so enttäuscht hatte.
Schon der zweite Heiratsantrag in meinem Leben, dachte Bernina mit
verzweifeltem Galgenhumor, und wieder mündet alles in eine einzige Tragödie.
Wie so oft sah sie nach draußen, dorthin, wo die Flagge wehte. Und zwangsläufig
hatte sie auch den Brief wieder vor Augen, den sie Falkenberg weggenommen
hatte. Schwert und Blume. Auf der Flagge, und auch auf dem Brief. Sie erinnerte
sich genau an diesen bittenden Ton, der das Schreiben erfüllte. … Ein
letzter Versuch, dich umzustimmen … falls das dein letztes Wort bleiben
sollte …
Falkenberg hatte diesen Brief vom Grafen erhalten. Und in jener
unheimlichen Nacht, als Bernina den Grafen bei Schloss Wasserhain entdeckte,
hatte sie sich nicht geirrt. Er hatte etwas vor die Palasttüren geworfen.
Vielleicht ein Etui, das ein neuerliches Schreiben enthielt, mit neuerlichen
letzten Bitten. Und gewiss war es auch Falkenberg gewesen, der den Brief in
ihrer Kommode entdeckt – und wieder an sich genommen hatte. Vielleicht
hatte er einmal bemerkt, dass sie das Schreiben bei seinem Eintreten auffällig
rasch in der Schublade verstaut hatte.
Bernina drehte sich vom Fenster weg und setzte sich aufs Bett. Die
Begegnung mit dem Grafen spielte sich vor ihrem inneren Auge ab, sie sah jede
seiner knappen Gesten, hörte jedes seiner Worte. Vor allem seine klar und
trocken hingeworfene Drohung, sie würde sterben. Danach hatte er sie sofort von
dem Riesen wieder in dieses Zimmer bringen lassen.
Und obwohl es dem Grafen nicht um sie, sondern allein um
Falkenberg ging, war nach wie vor dieses eigenartige Gefühl in ihr. Dieses
Gefühl, das ihr zuflüsterte, dass ihr Weg sie nicht zufällig hierhergeführt
hatte. Es gab eine Verbindung zu diesem Mann.
Irgendwie kam er ihr vertraut vor.
Wieder stand sie auf, wieder suchte ihr Blick die Flagge. Eine
gleich aussehende Fahne hatte sie einmal in ihren eigenen Händen gehalten.
Damals in dem merkwürdigen Zimmer des Petersthal-Hofes. Falkenberg zog unter
einer Flagge in die Schlacht, die ebenfalls hellblau war. Nur dass darauf ein
Falke abgebildet war.
Und in diesem Moment erkannte Bernina, weshalb ihr etwas an dem
Grafen vertraut erschienen war. Auf einmal sah sie es deutlich vor sich, und
sie war völlig verwundert, dass ihr der Gedanke nicht schon lange vorher
gekommen
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