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Das Geheimnis der Krähentochter

Das Geheimnis der Krähentochter

Titel: Das Geheimnis der Krähentochter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Oliver Becker
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die
Männer zurück, fast jeder von ihnen mit einem Sack über der Schulter.
Offensichtlich Beute, die sie auf einem Raubzug an sich genommen hatten. Sie
sattelten ab, banden die erschöpft wirkenden Pferde unter dem löchrigen Dach
des Stalls an und betraten das Gebäude durch die Vorhalle.
    Wiederum gedämpft ihre Stimmen, diesmal nicht laut und trunken,
sondern leiser, müde. Die Gespräche versiegten, die Männer gingen wohl
schlafen. Es wurde endgültig hell, erneut begann es zu nieseln. Und bald kam
der Moment, auf den Bernina gewartet hatte, nach wie vor mit Entschlossenheit,
aber auch wieder voller Anspannung.
    Der Riese betrat den Raum, die Axt im Gürtel, das Tablett in der
Hand. Als Bernina nicht an der Wand verharrte, sondern einen Schritt auf ihn
zumachte, blieb er stehen.
    Ihre Augen trafen sich.
    Das Tablett wurde einfach auf den Boden gestellt. Die Pranke legte
sich schon wieder auf den Schaft der Axt. Mit der anderen Hand wies er zur Wand.
    »Der Graf«, hörte Bernina ihre eigene Stimme, zittriger, als sie
es sich vorgenommen hatte.
    Seine buschigen Augenbrauen ruckten hoch. Er war überrascht. Und
zog die Axt aus dem Gürtel. Er grunzte einen unverständlichen Laut.
    »Ich will den Grafen sehen.« Berninas Stimme gewann an Festigkeit.
»Ich will ihn sprechen.«
    Der Mann lachte auf. Womöglich war es dieses Lachen, das ihre
Furcht für einen Augenblick vertrieb. Ohne darüber nachzudenken, was sie tat,
griff sie nach der Holzschale, in der das Gebäck gewesen war, und warf sie ihm
ins Gesicht.
    Völlig verdutzt starrte er sie an. Dann machte er einen langen und
für ihn erstaunlich flinken Schritt auf sie zu – und schlug zu. Ebenso
flink, mit der freien Hand.
    Bernina hörte das Klatschen des Schlags und wurde in die Ecke des
Raumes geschleudert. Erst als sie auf dem Boden lag, fühlte sie den Schmerz auf
ihrer Wange.
    Einen Moment schien es, als würde er auf sie zukommen, um mit den
Schlägen fortzufahren, doch etwas in ihm schien ihn zurückzuhalten. Er verharrte,
wo er war.
    Auch Bernina regte sich nicht, sie stand nicht auf, sie blickte
ihn nur an, voller Zorn. »Ich will den Grafen sprechen.« Jetzt klang ihre
Stimme so, wie sie es wollte. Scharf, hart. »Ich möchte wissen, was er von mir
will.«
    »Von dir will er gar nichts.« Die massigen Schultern hoben sich,
senkten sich. »Überhaupt nichts.«
    »Was soll das heißen? Weshalb bin ich dann hier?«
    Er drehte sich einfach um und ließ sie
fassungslos zurück.
    Wozu diente das alles? Der Tag zog sich so
unerträglich langsam hin wie die vorangegangene Nacht. Angst wechselte sich ab
mit Wut, Hoffnungslosigkeit mit dem Drang, sich gegen diese schwere
abgeriegelte Tür zu werfen. In immer kürzeren Abständen trat sie ans Fenster,
um die Entfernung zur Mauer darunter wieder und wieder mit einem Blick zu
messen. War es doch nicht unmöglich? Wenn es ihr gelänge, die Scheibe zu
zersplittern, vielleicht mit dem Ellbogen, vielleicht mit dem Tablett, wäre es
möglich, sich durch die Fensteröffnung …
    Nein, kam sie jedes Mal zu dem gleichen Schluss.
Sonst hätte man sie ganz bestimmt auch nicht hier eingesperrt.
    Und die Zeit kroch weiter. Der Tag ähnelte dem vergangenen. Ein
farbloser Himmel, der dann und wann schwachen Regen nieseln ließ. Als Bernina
bereits überzeugt davon war, bis zum nächsten Morgen nichts anderes mehr zu
sehen als die leeren Steinwände, sprang ihre Tür auf.
    Der Riese. Diesmal nicht nur mit einer Axt, sondern auch mit einer
Pistole bewaffnet, die in seiner Hand zu verschwinden drohte. Er hatte kein
Essen dabei, dafür einen Lederriemen. Das eine Ende davon war um sein
Handgelenk gebunden. Das andere verknotete er, die Mündung der Pistole vor
ihrer Brust, mit geschickten Fingern um Berninas Handgelenk.
    So führte er sie vor sich her. Durch den Riemen mit ihr verbunden,
die Pistole mit dem trichterförmig abschließenden Lauf in der Hand. Über
schmale steinerne Stufen durch den dunklen Turm nach unten, dann einen Gang
entlang. Staub, Spinnweben, Schmutz, der irgendwann von Stiefelsohlen
abgefallen und hier vertrocknet war. Einmal tauchte eine Maus unmittelbar vor
Berninas Füßen auf, um sofort wieder in eine dunkle Ecke zu huschen.
    Sie passierten ein offenes Zimmer, in dem Stühle umgekippt lagen,
begraben unter einer dicken Staubschicht.
    »Wohin bringst du mich?«, fragte sie, um diese Ruhe zu brechen, um
dem Kerl zu zeigen, dass sie sich nicht einschüchtern ließ. Und um das
neuerliche Aufwallen kalter

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