Das Geheimnis der Krähentochter
die große Treppe erreichte. Auf deren
Stufen kämpften Männer miteinander. Degen und Kurzschwerter surrten durch die
Luft, ließen durch ihren Schwung das Blut der Getroffenen regnen. Die Gefolgsleute
des Grafen verteidigten verzweifelt ihren Stützpunkt, anscheinend jedoch waren
die Angreifer in der Überzahl. Bernina hatte längst erkannt, wer diese
geheimnisvolle Festung im Sturm einzunehmen versuchte – es waren dieselben
Soldaten, die vor Kurzem noch Schloss Wasserhain bewacht hatten. Es waren
Falkenbergs Soldaten. Da die Mauer zu hoch war, um sie zu überwinden, hatten
sie mit Sicherheit ein Loch in diesen Schutzwall gesprengt. Das musste der
ohrenbetäubende Knall gewesen sein – das Signal zum Losschlagen.
In der Vorhalle, offenbar im gesamten Erdgeschoss, wurde gefochten
und mit abgefeuerten Musketen um sich geschlagen. Bernina entschied sich dafür,
der Treppe noch ein Stück weiter nach oben zu folgen. Wenn der Weg nach unten
versperrt war, musste sie eine andere Lösung finden, aus dieser Todesfalle
herauszukommen. Und sie hatte auch schon eine Idee.
Aber auch hier stieß sie auf miteinander ringende Männer, an denen
sie vorüberglitt, ohne dass jemand der Kämpfer Zeit gehabt hätte, ihr Beachtung
zu schenken. Während des Laufens streifte sie den Lederriemen von ihrem
Handgelenk und ließ ihn fallen.
Fast war sie an ihrem Ziel. Dem Zugang zur
Festungsmauer.
Die Mauer, das war ihre Chance. Bernina wusste, dass sie zu hoch
war, um einfach über sie hinwegzuspringen. Doch schon bei den vielen Blicken
aus dem Fenster des Turmzimmers war ihr ein anderer Gedanke gekommen.
Bernina riss die schwere Tür auf, und schon sah sie das
Holzgerüst, das normalerweise den Wachposten diente, und die Zinnen der Mauer.
Dann allerdings wurde sie am Arm gepackt. Einer der Soldaten hielt sie fest,
und seine Stimme gellte durch den Kampfeslärm: »Ich habe sie! Oberst
Falkenberg, ich habe Ihre Braut!«
Mit aller Kraft versuchte sie, sich aus seinem Griff zu winden.
Der Degen rutschte aus seinen Fingern und landete mit einem klirrenden Laut auf
dem Steinboden. Beide Arme des Mannes pressten sich nun um ihren Körper, ließen
ihr keine Chance.
»Oberst Falkenberg!«, rief er erneut.
Weitere Schüsse peitschten, vor allem im Hof der Festung wurde
geschossen.
»Oberst Falkenberg!«
Bernina wehrte sich noch immer, versuchte, nach dem Mann zu
treten, ihn von sich wegzudrücken, doch ein einziger Blick ließ sie innehalten.
Ein Blick aus grauen Augen.
»Loslassen«, schnarrte Falkenberg, und sofort lösten sich die Arme
des Soldaten von ihr.
Die Ledermanschette über dem linken Handgelenk, die elegante
Kleidung, der blutige Degen, lässig von der gesunden Hand gehalten. Und dieser
Blick eines Mannes, der auch mitten in einer Schlacht immer die Ruhe zu bewahren
verstand, das Entscheidende nie aus den Augen verlor.
Er stand auf dem oberen Treppenabsatz und sah auf sie hinab. Mit
einer raschen Geste seines linken Armes schickte er den Soldaten zurück ins
Kampfgetümmel.
Bernina war regungslos, ebenso der Oberst. Ihre Blicke lagen
ineinander wie schon einmal – als Bernina auf einem Pferderücken
davongeprescht war. Das war vor wenigen Tagen gewesen, und doch kam es ihr viel
länger vor.
»Ich hätte dich gehen lassen«, sagte Falkenberg. »Wenn es wirklich
dein Wunsch war, hättest du in aller Offenheit den Palast verlassen können. In
einer Kutsche, begleitet von einer Eskorte. Mit Anstand.«
»Du hättest mich niemals so einfach abreisen lassen.«
Sein Mund zeigte ein schmales Grinsen. »Schön möglich. Wenn man
dich einmal gewonnen hat, kann man dich nicht so einfach wieder aufgeben.«
Seine Stimme wurde spöttischer. »Du siehst ja, was ich für einen weiten Weg auf
mich genommen habe, um dich zurückzuholen. Trotz der Demütigung, die du mir als
Abschiedsgeschenk hinterlassen hast.«
»Wäre es dir allein um mich gegangen, wäre gewiss kein solcher
Aufwand nötig gewesen. Meine Gefangenschaft hättest du schneller und
gefahrloser beenden können.«
Er nickte. »Das mag sein. Aber ich lasse mich nicht erpressen. Und
wie gesagt«, sein Grinsen war wieder da, »ich bin ja hier.«
»Dieser Mann wollte mich umbringen lassen. Aus welchem Grund? Ist
er etwa …«
»Ich habe dich gerettet«, fiel er ihr ins Wort. »Und jetzt werde
ich ihn umbringen.«
Eigentlich, dachte Bernina, war es ein Gemälde, das mich gerettet
hat.
Falkenberg machte sich bereit, zu ihr herunterzukommen.
Plötzlich jedoch erschien
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