Das Geheimnis der Krähentochter
Furcht in ihr nicht zu übermächtig werden zu
lassen.
Der Riese antwortete nicht.
»Etwa zum Grafen?«, gab Bernina nicht auf. »Will er auf einmal
doch etwas von mir?«
Ein plötzliches heftiges Ziehen an dem Lederriemen stoppte ihren
Lauf. Der Mann machte eine Tür auf, die sich links von ihnen befand und die
Bernina erst gar nicht aufgefallen war.
Ein harter Druck der Pistole zwang sie in das Zimmer, das dahinter
lag.
Diesen Raum zu betreten, war, als würde man von einem nächtlichen
Wald verschluckt. Dunkel die Wände, von dunklen Stoffen verhangen die Fenster,
dunkel die durcheinanderstehenden Stühle, dunkel die Decken, mit denen die
restliche Einrichtung abgedeckt worden war.
Diese Beklemmung. Diese Furcht in ihr. Da war sie wieder, und
jetzt gab es auch kein Gegenmittel für sie. Sie kroch von den Füßen durch den
gesamten Körper, bis unter ihren Haarschopf, sogar bis in die Haarspitzen. Als
würde sie barfuß über eine meterdicke Eisschicht gehen. Bernina hatte Angst,
Angst wie nie zuvor in ihrem Leben, und irgendwo in ihrem Bewusstsein wirbelten
die Bilder eines lange zurückliegenden Morgens auf dem Petersthal-Hof, Bilder
von Tod und Zerstörung.
Es war ein weiter, verschlungener, gefährlicher Weg gewesen, aber
für den Bruchteil eines verrückten Augenblicks kam es Bernina so vor, als hätte
sie es von Anfang an genau hierher geführt, in diesen Wald, in diese Festung,
zu diesem Mann, der sie erwartete.
Er thronte auf einem hohen Stuhl, dessen Lehne weit über sein
Haupt reichte. Zum ersten Mal sah sie ihn ohne den breitkrempigen Hut. Seine
Augen blickten ihr entgegen, kalt und glühend zugleich. Schwarz der Umhang, der
das Silberweiß seines Haars und seines Bartes betonte. Und diese
durchscheinende Blässe der Haut.
Ein paar Schritte vor ihm fühlte Bernina wieder ein hartes Ziehen
am Lederriemen und sie blieb stehen.
Bernina wusste, dass er es spürte – dass er ihre Angst
riechen konnte. Sie sah es ihm an.
Sein lippenloser Mund deutete ein Grinsen an.
Und so viele Fragen jagten durch Berninas Gedanken. Warum bin ich
hier? Wer sind Sie? Was wollen Sie von mir? Sie konnte nichts sagen – ihr
Kopf war leer. Dann hörte sie seine heisere Stimme.
»In der Tat, eine sehr schöne Braut hat er sich da ausgesucht.«
Seine Hände, verhüllt von dunkelbraunen Lederhandschuhen, schlossen sich
ineinander. Und seine Augen tasteten in aller Offensichtlichkeit ihre Gestalt
ab. Er hatte etwas Arrogantes, etwas Überhebliches. Und strahlte Kälte aus.
»Aber Jakob von Falkenberg ist ja bestens bekannt für seinen ausgesprochen
guten Geschmack«, fuhr der Mann in Schwarz fort.
Es erstaunte Bernina, Falkenbergs Namen zu hören. Ihre Gedanken
waren die ganze Zeit über beim Petersthal-Hof gewesen, bei dem Blutbad, das
dieser Mann, der hier so arrogant vor ihr stand, angerichtet hatte.
»Nun ja«, sagte der Graf abfällig. »Mich beeindruckt Schönheit
allerdings weitaus weniger.« In sein Grinsen mischte sich ein unbarmherziger
Zug. »Merkwürdig nur, dass Falkenberg es dennoch nicht gerade eilig hat, dich
zurückzugewinnen. Dabei ist er doch bis über beide Ohren verliebt, wie man
hört. Kannst du dir das erklären, warum er zögert? Das ist doch sonst nicht
seine Art.«
Bernina musste ihre Gedanken ordnen, ihr war überhaupt noch nicht
klar, was genau der Mann meinte. »Er zögert?«, wiederholte sie rau.
»Ja, das tut er«, entgegnete der Graf ungeduldig, und sie
erkannte, wie gefährlich es werden konnte, wenn er einmal seine Beherrschung
verlor. »Ich habe ihn wissen lassen, wo er dich findet und dass er dich
wiederhaben kann. Aber dein Herzensbrecher lässt sich nicht blicken.«
Endlich erfasste sie die Bedeutung seiner Worte, endlich wurde ihr
bewusst, dass es hier nicht im Geringsten um sie ging. Der Oberst war das Ziel
dieses geheimnisvollen Grafen gewesen. Und das womöglich schon die ganze Zeit
über. Sie war nichts weiter als ein Lockmittel für Falkenberg, ein Köder, der
bei einer günstigen Gelegenheit geschnappt worden war.
Also hatte der Graf wohl auch nicht sie im Auge gehabt, als er
Schloss Wasserhain beobachtete – sondern Falkenberg. Bernina war für ihn
einfach nur die Braut des Obersts, er brachte sie überhaupt nicht in Verbindung
mit dem Petersthal-Hof.
»Gesprächig scheinst du nicht gerade zu sein«, unterbrach der Graf
höhnisch ihre Gedanken. »Aber besonders bei Damen ist das ja mehr als
begrüßenswert.« Er stand plötzlich dicht vor ihr und blickte auf sie
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