Das Geheimnis der Krähentochter
dem Boden, an die Wand gelehnt.
Sein Rahmen war edel, aber an mehreren Stellen zersplittert. Die Leinwand war
spröde und rissig.
Das Werk zeigte zwei Personen, die auf einem Baumstamm saßen, als
würden sie bei einem Spaziergang eine Rast machen. Der Stamm lag auf einer
Blumenwiese. Dahinter ein Wald, dessen Baumwipfel sich in den blauen Himmel
bohrten. Die erste Person war ein Herr mit schmalem Gesicht, hellem Haar,
gepflegtem Schnurr- und Spitzbart. Er trug edle Kleidung und seine Augen
schienen genau auf den Maler gerichtet zu sein. Einen Arm hatte er um die
Schultern der zweiten Person gelegt. Ein kleines lächelndes, honigblondes
Mädchen, das ein wunderschönes hellblaues Kleid trug.
Bernina schluckte, und dieses Schlucken schmerzte in ihrem Hals.
Diese kleine Blonde war ein wenig älter als auf dem Werk mit dem
Brunnen, aber es war dasselbe Mädchen. Das war auf den ersten Blick zu
erkennen.
Erst allmählich drang das, was der Mann gesagt hatte, wieder in
ihre Gedanken. Tatsächlich: Du bist es.
Es war, als würde jemand einen Schleier von ihren Augen ziehen. Er
hat recht, sagte sie sich, du bist es. Das Mädchen in dem hellblauen Kleid, das
war sie selbst. Niemand war je auf den Gedanken gekommen, hatte je eine
Ähnlichkeit feststellen können. Weder der Oberst noch Melchert Poppel. Oder sie
selbst. Ausgerechnet dieser Kerl, der ihr mehr wie ein Tier denn wie ein Mensch
vorkam, hatte es bemerkt.
»Wenn du wüsstest«, sagte er mit beinahe weicher Stimme, »wie oft
ich diesem Mädchen in die Augen gesehen habe. Wie oft ich dir in die Augen
gesehen habe. Ganze Nachmittage habe ich hier in diesem Raum verbracht. Ich
habe einfach vor dem Gemälde gesessen und es angeschaut. Dieses Mädchen schien
mir das einzige in dieser ganzen gottverdammten Festung zu sein, was schön war.
Schön und rein und vollkommen. So habe ich es immer gesehen.«
Verblüfft blickte Bernina von dem Gemälde zu dem Mann. Trotz ihrer
Verwirrung erinnerte sie sich daran, dass Jakob von Falkenberg einmal etwas
ganz Ähnliches zu ihr gesagt hatte, damals in Ippenheim, vor dem anderen
Gemälde.
»Immer und immer wieder«, fuhr der Riese fort, »saß ich hier vor
dem Bild. Wenn die anderen ihre Raubzüge unternahmen, und niemand in der
Festung war außer mir. Dann war ich hier.«
Sein nachdenklicher Ton hatte ihn nicht veranlasst, die Waffe zu
senken. Weiterhin war sie auf Berninas Körper gerichtet.
»Und jetzt«, sagte er »muss ausgerechnet ich dafür sorgen, dass
dieses Mädchen stirbt. Dass mein Mädchen stirbt. Ich habe mich immer gefragt,
wie es inzwischen wohl aussieht. Wo es inzwischen lebt.« Ein Zucken in seinem
gewaltigen Oberkörper, als versuche er, diese Gedanken irgendwie abzuschütteln.
Wieder richtete er seinen Blick auf Bernina. Traurig und wie unter Zwang.
»Wenn ich nur einen Ausweg wüsste«, meinte er leise. »Aber es gibt
wohl keinen. Ich muss tun, was mir befohlen wurde. Wie immer. So ist es eben.«
Bernina sah ihn an, dann das Mädchen auf dem Bild. Jetzt weiß ich
endlich, wer du bist, Kleine. Und weiß es doch auch nicht. Wenn ich es nur je erfahren
könnte.
Im nächsten Moment – der Schuss.
Allerdings nicht hier in diesem verstaubten, toten Raum, sondern
irgendwo außerhalb des Gebäudes. Ein Schuss, dem sofort ein markerschütterndes
Krachen folgte. Es war, als würden unzählige Donnerschläge auf einmal ertönen
und die Welt zum Erzittern bringen. Sofort darauf weitere Schüsse, abgefeuert
von Musketen und Arkebusen. Wildes Geschrei, die Geräusche
aufeinanderprallender Degenklingen.
Seit der Schlacht von Ippenheim kannte Bernina solche Laute. Und
auf einmal rannten ihre Beine los, einfach so, als wären sie selbstständige
Lebewesen. Sie sprang über ein paar ineinandergestapelte Weidenkörbe, rannte
weiter, rempelte einen der hohen Stühle mit der Hüfte an, und alles, was sie
fühlte, war die Anspannung in ihrem Rücken, dort, wo sie die tödliche Kugel
erwartete.
Doch ohne dass im Zimmer ein Schuss fiel, erreichte sie die Tür,
und obwohl sie bloß noch nach draußen auf den Flur stürzen wollte, trieb sie
etwas dazu, noch einmal zurückzublicken. Über ihre Schulter hinweg sah sie den
Riesen, wie er immer noch neben dem Gemälde stand, immer noch seine Augen auf
sie gerichtet hatte, immer noch die Pistole in der Hand hielt – aber er
krümmte nicht den Finger, der am Abzug lag.
Und dann war Bernina auch schon draußen aus dem großen Raum. Sie
hastete den Flur entlang, bis sie wieder
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