Das Geheimnis der Krähentochter
weiß immer noch nicht, wovon du redest. Aber so wie du damals
mich begleitet hast, werde ich jetzt bei dir sein, Bernina. Was immer du
vorhast, wohin es dich auch verschlägt, ich werde da sein. So, wie wir es
wollten.«
Bernina schloss die Augen und genoss den Moment.
Dann war es Balthasars Stimme, die zu ihr drang: »Es wird Zeit,
dass wir weiterziehen. Allein schon wegen Poppel.«
Bernina nickte ernst. »Ja, wir müssen uns um ihn kümmern. Er ist
krank und schwach.«
Kurz darauf brachen sie auf. Die Luft war noch immer kühl, aber
die Regenwolken der letzten Tage und Nächte waren einem strahlend blauen Himmel
gewichen. Anselmo führte die kleine Gruppe an. Er wusste jederzeit genau, wo
sie sich befanden. Allerdings mussten sie immer wieder eine Rast einlegen.
Poppels Schritt wurde zusehends schwerfälliger. Balthasar bot an, ihn für eine
Weile zu tragen, doch das lehnte der Arzt ab. »Wenn du mir helfen willst«,
sagte er mit dünner Stimme zu dem Hünen, »dann besorg mir einen ordentlichen Branntwein.«
So war es schon fast wieder Abend, als sie das einsame Gasthaus
erreichten. Es befand sich an der Gabelung einer Straße, die südlich nach
Freiburg und in entgegengesetzter Richtung zurück nach Offenburg führte. Es
handelte sich um einen klobigen Bau aus dicken Mauern und löchrigem
Schindeldach, zwei Stockwerke hoch, mit einem dunklen Schankraum und darüber
Zimmern für Reisende. Die Familie, die das Gasthaus betrieb, schlief unter dem
Dach.
Die Straße wurde normalerweise kaum genutzt. Jetzt allerdings
waren viele Leute unterwegs, die Offenburg vor dem Beginn der großen Schlacht
verlassen hatten und sich nun auf einer Reise ins Ungewisse befanden. Doch
Bernina und ihre Begleiter hatten Glück. Eines der Zimmer war frei geworden, da
eine besser gestellte Familie mit ihren Hausangestellten weitergereist war. So
bezogen sie den engen Eckraum, alle vier gemeinsam, aber wenigstens hatten sie
ein Dach über dem Kopf.
Was sie von den anderen Gästen sahen, gefiel ihnen nicht
sonderlich. Womöglich hatte die rechtschaffene Familie das Weite gesucht, weil
sich allerhand Gesindel hier aufzuhalten schien. Anselmo und Balthasar
beschlossen jedenfalls, weiterhin wachsam zu bleiben.
Das einzige Bett des staubigen Raums, eigentlich nur ein wackliges
Gestell mit längs und quer gespannten Lederstreifen, drängte Bernina dem Arzt
auf, und diesmal wehrte sich Poppel nicht. Er streckte sich aus und lud alle zu
einem kräftigen Abendessen ein, das sie gemeinsam im Zimmer einnahmen. Bernina,
Anselmo und Balthasar saßen auf dem Boden vor dem Bett, und jeder ließ sich
eine große Schüssel mit Gemüseeintopf schmecken.
Nach einer Nacht, in der es nur einmal durch einen wüsten Streit
im Schankraum laut wurde, berieten sie früh am Morgen, wie es weitergehen
sollte. Wiederum saßen sie zu dritt am Fuß des Bettes, von dem der Arzt sie mit
trüben Augen anblinzelte. Poppel sah trotz der Ruhe der letzten Stunden nach
wir vor sehr schlecht aus. »Rücken Sie näher zu mir«, forderte er Bernina auf
und streckte seine Hand aus.
Sie tat, was er wünschte, setzte sich ans Kopfende, und als sie
seine Hand in ihre nahm, erschrak sie angesichts der Kälte seiner Finger.
»Meine Liebe, ich weiß, dass ich euch nur aufhalte.«
Alle widersprachen, aber das ließ Poppel nicht gelten.
»Nein, nein«, sagte er leise. »Es ist, wie es ist. Ich bin krank,
und das schon sehr lange. Ich spüre, dass sich etwas in mir ausbreitet, gegen
das es keine Heilung gibt.«
Erneut versuchte Bernina zu widersprechen, aber sie verstummte
rasch. Der Arzt wollte ihr etwas mitteilen.
»Bernina, Sie waren wie eine Tochter für mich. Und wenn ich
sterbe, dann nicht mehr ganz so verbittert, wie ich es einst war. Irgendwie
habe ich den Glauben an das Gute im Menschen wiedergefunden, und das ist allein
Ihr Verdienst. Sie sind etwas ganz Besonderes.«
Bernina schluckte.
»Sie werden noch lange nicht sterben«, sagte Anselmo mit
überzeugter Stimme, und Balthasar gab ein lautes, bestätigendes Brummen von
sich.
»Da bin ich mir nicht so sicher.« Poppel lächelte sie an, einen
nach dem anderen. »Wie ich schon sagte, ich halte euch bloß auf. Und dabei habe
ich den Eindruck, dass es Sie weiterdrängt, Bernina, und zwar zu einem ganz
bestimmten Ziel.«
Wieder einmal war es so, als würde er in ihr lesen wie in einem
Buch. Dennoch versuchte Bernina ihm klarzumachen, dass sie es nicht eilig habe.
»Ich habe so viel Zeit verstreichen lassen, dass es
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