Das Geheimnis der Krähentochter
Balthasars Tasche war fast aufgebraucht. Aber
irgendwie war es ihm gelungen, in einem nahe gelegenen Fluss ein paar silbern
glänzende Forellen zu fangen. Er hatte bereits ein Feuer entfacht und die
Fische hingen, von einem Spieß durchbohrt, über den Flammen.
Während der Mahlzeit entschieden sie gemeinsam, noch weiter in
südlicher Richtung vorzudringen. Balthasar erklärte, ab jetzt kenne er die
Gegend überhaupt nicht mehr. »Ich bin nie so weit im Süden gewesen.«
Bei Bernina und Anselmo verhielt sich das anders, denn sie waren
schon fast wieder in dem Gebiet angekommen, das sie zusammen mit den Gauklern
durchstreift hatten. Poppel äußerte sich nicht. Still hockte er am Feuer, die
Wangen eingefallen, selbst seine ansonsten leuchtend rote Nase war ganz weiß.
Mit einem Seitenblick auf ihn meinte Anselmo: »Ich weiß von einem
Gasthaus, das nicht weit von hier sein müsste. Vielleicht können wir uns dort
etwas aufhalten und die nächste Nacht um einiges bequemer und wärmer
verbringen.«
Bei dieser Bemerkung horchte Poppel sichtlich erleichtert auf.
»Ein Bett wäre in der Tat nicht schlecht«, murmelte er, während er in den
Taschen seines Rocks kramte. Er förderte einen Lederbeutel zutage. »Ein paar
Münzen, die ich eigentlich in einen neuen Branntweinvorrat anlegen wollte. Na
ja, jetzt nehme ich sie eben für eine Unterkunft. Zwei Zimmer müssten zur Not
für uns vier reichen.«
»Das wäre großartig«, stimmte Bernina zu. Sie freute sich, dass
der Arzt seine Lebensgeister wieder erweckt hatte.
»Hoffen wir, dass es mit dem Quartier klappt«, meinte auch
Anselmo.
Nach dem Essen legte Bernina den kurzen Weg zum Fluss zurück, an
dessen Ufer sie in die Knie ging, um sich Hände und Gesicht zu waschen.
Plötzlich war Anselmo bei ihr. Sein Schatten fiel auf sie, und sie erhob sich
rasch. »Ich habe dich gar nicht kommen gehört.«
In seinem Gesicht war ein Lächeln, doch Bernina kannte ihn gut
genug, um zu wissen, dass ihn etwas sehr beschäftigte. Sie legte eine Hand auf
seinen Arm und fragte offen: »Was ist los? Woran denkst du?«
»An nichts Bestimmtes«, versuchte er auszuweichen.
Was Bernina erstaunte – das passte nicht zu ihm. »Mein Gefühl
sagt mir da etwas ganz anderes.«
Sein Lächeln verschwand, er blickte an ihr vorbei auf den Fluss,
der sich träge durch die leicht gewellte, hier und da von Waldstücken
gesprenkelte grüne Landschaft schlängelte.
»Bitte, Anselmo, sag mir, worüber du nachgrübelst.«
Ein paar flüchtige Falten auf seiner Stirn. »Natürlich habe ich
gemerkt, dass du mit ihm gesprochen hast. Sehr lange.«
»Ja, das habe ich.«
»Bernina, ich weiß nicht recht, wie ich es sagen soll. Aber du
bist so schweigsam, seit dieser Mann tot ist. Denkst du an ihn? Liebst du ihn
noch? Zumindest ein wenig?«
»Nein, ich liebe ihn nicht«, sagte Bernina mit fester Stimme. »Ich
habe auch nicht an ihn gedacht. Übrigens ausnahmsweise sogar nicht einmal an
dich.« Sie lächelte ihn an, bevor sie fortfuhr: »Aber da ist etwas, das mich
mit diesem Jakob von Falkenberg verbunden hat. Etwas, das sich mir einfach
nicht erschließen will. Ich hätte ihm gern noch viele Fragen gestellt. Aber das
kann ich jetzt nicht mehr. Anselmo, deshalb bin ich so schweigsam.«
»Worüber denkst du nach?«
»Ich glaube, über mich selbst.« Unschlüssig sah sie ihn an. »Ich
frage mich, wer ich bin. Schon seit einiger Zeit schwirren alle möglichen
Fragen durch meinen Kopf. Aber ich habe so eine merkwürdige Ahnung, dass ich
bald die Antworten darauf finden könnte.«
»Wie willst du diese erhalten? Und vor allem wo?«
Sie ließ ihren Blick dem Flusslauf folgen. »Da, wo alles für mich
begonnen hat. Eines nebligen Morgens. Mit einem kleinen Mädchen in einem
hellblauen Kleid, das ich auf einmal sah und doch wieder nicht. Ein Mädchen,
das ein Geist war und auch irgendwie lebendig. Ein Mädchen, ich selbst.«
»Was meinst du damit?« Anselmo betrachtete sie mit großen Augen.
»Ich verstehe kein Wort.«
»Ich verstehe es selbst nicht. Aber eines Tages werde ich
vielleicht mehr wissen und dir mehr sagen können.« Sie lehnte sich an ihn,
fühlte seinen Körper, in den die Stärke zurückkehrte. »Weißt du noch, als wir
uns kennenlernten? Damals wollte ich einfach nur den Schwarzwald hinter mir
lassen. Hinaus in die Welt und für immer mit dir zusammen sein. Wahrscheinlich
hätte ich vor unserem Aufbruch doch noch ein paar Fragen stellen, mir ein paar
Gedanken mehr machen sollen.«
»Ich
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