Das Geheimnis der Krähentochter
Zigeuner verwendeten.
»Gaunersprache?« Anselmo lachte. »So nennt man das bei euch?«
»So nennt man das bei uns«, bekräftigte Bernina.
Unerwartet warf er ihr statt einer Antwort einen Apfel zu, und
Bernina fing ihn ungeschickt auf.
»Danke, aber ich bekomme keinen Bissen mehr herunter«, stöhnte
sie.
Der Apfel flog zurück – und Anselmo pflückte ihn aus der
Luft, wesentlich geschickter als sie zuvor. Aus dem Apfel wurden wie von Zauberhand
zwei Äpfel, dann drei, vier und schließlich fünf. Er jonglierte so schnell
damit, dass es Bernina die Sprache verschlug, und schon verschwand das Obst
wieder irgendwo in Anselmos wallender Pluderhose.
Im nächsten Moment fuhren seine flinken Finger in ihre Haare,
direkt über ihrem Ohr.
»Da ist etwas«, meinte er mit vorgegebenem Ernst.
»Eine Spinne?«
»Nein.«
Eine Margerite war es, die er plötzlich in der Hand hielt.
»Hoppla«, staunte er. »Sieh mal an: Dein Haar ist so wundervoll,
dass darin Blumen wachsen.«
»Deine Tricks und Schmeicheleien kannst du dir bei mir sparen«,
sagte sie rasch. Doch sie fühlte, dass um ihren Mund ein sanftes Lächeln
spielte.
»Wenn das so ist, dann musst du deine Blume wohl behalten.«
Behutsam steckte er die Margerite in ihr Haar, genau an der
Stelle, wo er sie zuvor hatte auftauchen lassen.
»Wie eine kleine Sonne«, meinte er leiser als zuvor. »Sehr, sehr
schön.«
Bernina sah ihn lange an, ohne etwas zu sagen, dann richtete sie
ihre Augen wieder auf das Spektakel um sie herum. Sie lauschte der Musik und
dem Gelächter dieser Menschen, die ihr fremd waren und doch schon auf
verwirrende Art vertraut zu sein schienen. Nach all den Tagen in der Einsamkeit
des Waldes und der Stille in Cornix’ Hütte wehrte sie sich keineswegs dagegen,
sich einfach treiben, sich gefangen nehmen zu lassen von der wilden Magie
dieses Moments.
Eine Magie, die sie auch noch erfüllte, als sie sich mit
aufkommender Dunkelheit von der fahrenden Gruppe verabschiedete und später
allein in der dunklen Hütte der Krähenfrau lag. Die Musik erklang nach wie vor
in ihren Ohren, in der Stille ringsum, ebenso die fremden Stimmen mit ihren
teilweise wunderlich klingenden Sprachfetzen.
Anselmo hatte versucht sie zu überreden, noch etwas länger bei
ihnen zu bleiben und weiterhin mitzufeiern. Auch die anderen luden sie mit
Worten und Gesten ein. Doch alle Überredungsversuche waren vergeblich.
Schließlich bot Anselmo an, sie ein Stück weit zu begleiten, aber das ließ sie
ebenfalls nicht zu. Niemandem war bekannt, wo sich die Hütte der Krähenfrau
befand, und dabei sollte es auch bleiben. Außerdem wehrte sich Bernina ganz
bewusst dagegen, zu viel Vertraulichkeit zwischen ihnen entstehen zu lassen.
Als sie die Hütte erreichte, war nur eine Krähenschar da, die sie
aufgereiht und mit stechenden Augen auf dem Dach erwartete, nicht aber Cornix.
Sie war jetzt schon ein paar Tage unterwegs, doch ungewöhnlich war das nicht.
Oft waren es weite Wege, denen sie durch die Täler des Schwarzwaldes folgte.
Vollkommen war die Dunkelheit, die inzwischen das Innere der Hütte
beherrschte. Undurchdringlich die Stille, die eingesetzt hatte, nachdem die
Krähen mit einem letzten Krächzen den Abend verabschiedet und die Nacht
empfangen hatten.
Bernina dachte daran, wie gern sie Hildegard von diesem Tag
berichtet hätte. So oft hatten die beiden jungen Frauen über Männer gesprochen,
über ihre Träume, sich zu verlieben, über alles, was sie bewegte. Hildegard
allerdings war nicht mehr bei ihr, würde niemals wieder da sein, und das wurde
Bernina nun umso schmerzlicher bewusst.
Ihre Augen waren geschlossen, und dennoch sah sie ständig etwas,
Bilder, die sich vermischten, die vielen Farben jener Welt aus Menschen, Tieren
und Wagen, die am Rande der Granitfelsen Gestalt angenommen hatte. Und immer
wieder hörte sie Anselmos Stimme, hörte sie genau, wie er sagte: ›Wie eine
kleine Sonne. Sehr, sehr schön.‹
Mit diesen Worten schlief sie ein, und mit seinem Bild vor Augen
erwachte sie am nächsten Morgen, der die gleichen, von keiner Wolke getrübten
Sonnenstrahlen in die Hütte schickte.
Während sie sich wusch und ankleidete, ihre Zudecke schüttelte und
an einem nahen Baum zum Lüften aufhängte – die ganze Zeit schien dieser
Anselmo ebenso bei ihr zu sein wie die Krähen, die sich wie am Vorabend in
einer Reihe auf dem Hüttendach niedergelassen hatten. Stumme, starrende Wachen.
Der Vormittag zog sich dahin, der Nachmittag begann.
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