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Das Geheimnis der Krähentochter

Das Geheimnis der Krähentochter

Titel: Das Geheimnis der Krähentochter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Oliver Becker
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dann reichte man ihr eine Schale mit klarem, kaltem Wasser aus einem der
vielen Bäche in der Gegend, gleich darauf noch eine weitere Schale, diesmal mit
Stücken gerösteten Brotes, frischen Äpfeln und getrockneten Obststücken.
    Dankend lehnte sie ab, die Herzlichkeit der Leute ließ allerdings
kein Nein zu, und so aß sie dann doch, teilte aber Früchte und Brot mit ihren
Gastgebern. Nach der anfänglichen Furcht war Bernina nun geradezu überwältigt
von der Freundlichkeit der Menschen.
    Um sie herum wurden weitere Decken ausgebreitet. Leute setzten
sich hin und legten Musikinstrumente zwischen sich. Außerdem schichtete man
bereits gesammeltes Holz zu einem kleinen Turm auf, aus dem bald die Flammen
eines Feuers emporschossen.
    Plötzlich war auch der junge Mann wieder da,
der sich Anselmo nannte. Allerdings nicht allein. In seiner Begleitung befand
sich eine Frau, die auf den ersten Blick uralt zu sein schien. Älter als jeder
andere Mensch, den Bernina jemals gesehen hatte. Ihr kleines Gesicht bestand
nur aus Runzeln, und einen Moment lang musste Bernina an die Trockenfrüchte
denken, von denen sie eben gegessen hatte. Die Alte reichte Anselmo gerade
einmal bis zum Ellbogen, ein dürres Menschlein, das wohl auch der schwächste
Schwarzwaldwind mühelos fortwehen konnte.
    »Das ist Rosa«, stellte Anselmo vor. In seiner Stimme schwirrte
nicht mehr der Überschwang von zuvor, sondern eher so etwas wie Respekt oder
Wertschätzung.
    Die Alte sagte kein Wort und musterte Bernina
bloß mit einem stechenden, fast giftigen Blick aus winzigen Äuglein, die aus
diesem Geflecht aus Falten wild und misstrauisch hervorsprangen.
    »Sehr erfreut«, hörte Bernina ihre eigenen Worte,
eingeschüchterter, als sie es selbst erwartet hätte. Der Auftritt dieser Frau
hatte durchaus eine gewisse Wirkung auf sie.
    Nach wie vor schweigend kniete sich die Alte hin, um ganz
unverfroren Berninas Kleidersaum ein kleines Stück nach oben zu schieben.
Bernina merkte, wie ihre Wangen sich röteten, als die kleinen, knotigen Hände
ihren Knöchel betasteten.
    Während die Alte etwas vor sich hinmurmelte, mürrisch, mit
scharfer Zunge, betrachtete Bernina das lange graue Haar, das unter einem roten
Kopftuch hervorquoll und sich über die schmalen Schultern ergoss.
    Eine Frau gab der Alten einen kleinen Tonbehälter, aus dem sie
eine Salbe zutage förderte. Damit rieb sie den Köchel großzügig ein.
    Ob das auch Ringelblumensalbe ist?, fragte sich Bernina.
Allerdings war der Geruch, den die Paste verströmte, ein anderer. Was würde
Cornix wohl dazu sagen, sprangen Berninas Gedanken weiter, wenn sie sehen
würde, dass eine Fremde sich um mich kümmert? Sicherlich wäre sie alles andere
als erfreut.
    Die Alte beendete ihre gute Tat mit ein paar
vom Bachwasser gekühlten Stoffumschlägen. Sie erhob sich, auffallend
geschmeidig, fast wie ein junges Mädchen. Wiederum etwas Unverständliches
murmelnd, starrte sie Bernina in die Augen, ein Blick, den sie forschend und
prüfend auf sich fühlen konnte, weiterhin mit offenkundigem Misstrauen. Gleich
darauf tippelte die Alte schweigend zurück zu dem Wagen, ohne sich noch einmal
umzudrehen, ohne zu Bernina oder auch zu Anselmo noch ein Wort zu äußern.
    Bernina fühlte, wie die Anspannung, die sich mit dem Erscheinen
der Frau in ihr gebildet hatte, schlagartig nachließ. »Wer ist das?«, fragte
sie, immer noch unter dem Eindruck der seltsamen Begegnung stehend.
    »Sagte ich doch: Rosa«, lautete Anselmos Antwort. Er sah sie an,
wieder etwas heiterer als noch in Gegenwart der Frau. »Rosa weiß alles, und
Rosa sieht alles.«
    »Sie ist eine Seherin?«
    »Wie immer man sie auch nennen mag: Auf jeden Fall bedeutet sie
uns allen sehr viel.«
    Mit lässiger Ungezwungenheit setzte er sich neben Bernina auf die
Decke, worauf sie gleich ein wenig abrückte.
    »Keine Sorge, ich beiße nicht«, raunte er ihr ironisch zu.
    »Wer weiß?«, erwiderte Bernina spontan, und er musste lachen.
    Spieße wurden gebracht, auf denen abgehäutete Hasen steckten, und
mithilfe zweier einfacher Holzgabeln über dem Feuer platziert. Im Nu lockte der
Duft von gebratenem Fleisch. Seit sie sich bei der Krähenfrau aufhielt, hatte
sie auf eine solche Köstlichkeit verzichten müssen.
    »Wie seid ihr an die Wildhasen gekommen?«, forschte sie. »Hier in
der Gegend gibt es kaum noch welche.«
    »Uns gelingt es, fast überall ein paar Langohren aufzuspüren«,
antwortete Anselmo. »Wir fangen sie mit Schlingen, die wir vor ihrem

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