Das Geheimnis der Krähentochter
Berninas
Gedanken brachen auf zu Wanderungen, während ihr Körper in der Hütte oder
zumindest deren Nähe blieb. In ihrem Kopf befand sie sich wieder zwischen den
Wagen, an einem Lagerfeuer, inmitten der lustigen Fremden. Und sie dachte an
die Lichtung, an ihre Lichtung, wo sie in einem sich rasch auflösenden
Erschrecken direkt in Anselmos Arme gelaufen war.
Nachdem sie irgendwann, als die Sonne bereits zu sinken begann,
ihre nun ganz frisch nach Wald duftende Decke auf ihrer Schlafstelle
ausbreitete, erkannte sie, dass sie sich seiner Anziehungskraft nicht mehr
erwehren konnte. Von Cornix war noch immer nichts zu sehen. Bernina wusste nie,
wann genau sie nach Hause zurückkehren würde.
Bedächtig strich sie ihre Decke glatt, dann erhob sie sich, um die
Hütte zu verlassen. Bei jedem Schritt, mit dem sie Cornix’ verstecktes Refugium
ein bisschen weiter hinter sich ließ, fühlte sie die Blicke der Krähen auf
ihrem Rücken.
Diese einschmeichelnd kitzelnde Anziehungskraft wurde stärker, und
doch hatte Bernina genug Kraft, nicht den Weg zum Waldrand einzuschlagen, wo
die Granitfelsen lagen. Langsam näherte sie sich einer anderen Stelle. Bald
hörte sie das sanfte Plätschern des Baches. Sie trank von seinem klaren Wasser,
genau wie gestern, um dann ins schwächer gewordene Sonnenlicht zu treten, das
die Lichtung mit Helligkeit tränkte.
Als sie ihn erblickte, war sie nicht im Geringsten überrascht. Er
hatte sich im Gras ausgestreckt, jungenhaft und lässig, und er schickte ihr
sein Lächeln entgegen, als wäre auch er alles andere als verwundert darüber,
sie hier anzutreffen.
Obwohl sie allein aus der Hoffnung hierher gekommen war, ihm zu
begegnen, wie sie sich erst jetzt so richtig eingestand, legte sie die letzten
Schritte zu ihm mit einem Zögern zurück.
Seine gebräunte Hand zauberte eine Margerite hervor. »Die von
gestern hast du verloren«, lachte Anselmo, als sie sich ein Stück von ihm
entfernt auf die Erde setzte. Er beugte sie zu ihr vor. »Aber ich habe dir
wieder eine gebracht.«
Behutsam schob er die Blume in ihr Haar.
Einen Augenblick lang erwartete Bernina, er würde sie küssen, und
sie hatte nicht die leiseste Ahnung, wie sie in diesem Fall reagieren sollte.
Doch das tat er nicht. Er sah sie nur lächelnd an.
»Ich habe gespürt, dass ich dich hier treffen würde«, murmelte er
nach einer Weile.
Sie erwiderte seinen Blick, gab ihm aber keine Antwort.
»Meine Freunde finden, dass du etwas ganz Besonderes bist.
Eusebio, Adam und all die anderen.«
»Nur deine Freunde?«
Er beugte sich vor, aber Bernina wich ihm aus, ließ seine Lippen
ins Leere gleiten.
»Nein«, sagte sie. Aber nicht mit grober, sondern mit sanfter
Stimme.
Er legte seinen Arm um sie und versuchte sie ganz nahe an sich heranzuziehen.
»He!« Sie wand sich aus seiner Umarmung. »Ich bekomme ja kaum noch
Luft zum Atmen.«
»So geht es mir auch.« Seine blauen Augen blickten sie an. »Seit
ich dich zum ersten Mal gesehen habe.«
Bernina stand auf. »Wir kennen uns kaum«, entgegnete sie, nach wie
vor erfüllt von einem Gefühl, das ihr neu war. Doch ihre Vernunft siegte über
die Leidenschaft. »Eigentlich kennen wir uns überhaupt nicht.«
»Dann sollten wir keine Zeit verlieren.«
Sie musste lachen. »Wer weiß, ob das so eine gute Idee wäre. Du
bist doch bald wieder mit deinen Freunden verschwunden.«
Aus seinem Lächeln wurde Ernst. »Bernina, ich will dir keine
Märchen erzählen.« Ohne den Blick von ihr zu lassen, kam auch er auf die Beine.
»Ich würde dir nie etwas vormachen.«
»Was meinst du damit?«
»Dass ich wirklich bald verschwunden sein werde, weil ich
weiterziehen muss. Das würde ich dir niemals verschweigen.«
»Warum musst du weiterziehen?«
»Ich kann es nicht erklären. Aber etwas in mir treibt mich an,
immerzu dem Horizont hinterherzujagen.« Jetzt senkte Anselmo doch für einen
kurzen Moment den Blick. »Ich bin der, der ich bin.«
»Es ist schön, dass du mir nichts vorzumachen versuchst.«
»Wahrscheinlich lässt du mich jetzt einfach hier stehen.«
»Das könnte ich.«
»Ich mache dir einen Vorschlag. Meine Freunde und ich, wir haben
beschlossen, noch eine Weile hierzubleiben. Begleite mich doch einfach zu
ihnen. Der Abend gestern war sehr schön. Lass uns alle gemeinsam noch so einen
Abend erleben. Wie wär’s?«
»Und dann?«
Er sah ihr tief in die Augen. »Wir werden es auf uns zukommen
lassen.«
Bernina hielt seinem Blick stand. Sie wusste nicht, was
Weitere Kostenlose Bücher