Das Geheimnis der Krähentochter
Arme
gegriffen hatte.
Denn so geschickt sie bei ihren äußerst unterhaltsamen
Kunststücken waren, so wenig bewandert zeigten sie sich im Alltäglichen.
Bernina nähte ihnen neue bunte Kleidung, mit Stoffen, von denen sich ein
ziemlich großer Vorrat in einem der Planwagen befand. Sie flickte ältere,
löchrig gewordene Kleidungsstücke, zeigte den Fremden außerdem heilende oder
essbare Kräuter des Waldes, die sie noch nicht kannten, und machte sich so auf
vielerlei Weise nützlich.
»Zum Dank haben sie für mich gekocht. Und stell dir vor«, erzählte
Bernina jetzt wieder mit einem etwas schüchternen Lächeln, »jemand aus dieser
Gruppe hat mir sogar das Jonglieren beigebracht. Ich schaffe schon drei Äpfel
gleichzeitig. Außerdem habe ich auf einem Seil balanciert. Na ja, nur ein
paarmal geübt, einfach zum Spaß. Aber keine Sorge, das Seil war nur einen Meter
über der Erde gespannt.«
»Jemand aus dieser Gruppe?«, wiederholte Cornix und hatte
zielsicher den Punkt getroffen, bei dem Berninas Stimme leiser geworden war.
»Wer ist dieser Jemand?«
»Oh, er ist sehr nett. Alle sind sehr nett.«
»Er«, wiederholte Cornix knapp.
»Ja, er heißt Anselmo. Aber wie gesagt, alle sind …«
»Da kommt doch noch etwas«, schnitt die Krähenfrau ihr das Wort
ab.
»Was? Wie meinst du …«
»Na, mein Kind, da ist doch noch etwas. Auch wenn du jetzt schon
minutenlang wie ein Bach plätscherst: Eine Sache verheimlichst du mir. Oder
etwa nicht?«
»Eigentlich nicht.«
»Eigentlich?« Cornix funkelnde Augen stachen durch das immer noch
schwach in die Hütte kommende Licht. »Meine Ahnungen haben mich noch nie
getrogen. Auch diesmal nicht, da bin ich sicher. Also, raus mit der Sprache.«
Bernina senkte den Blick. Warum fällt es mir so schwer, ihr das zu
sagen?, fragte sie sich. Aus Zuneigung? Wegen der Dankbarkeit nach allem, was
sie für mich getan hat?
»Na los, mein Kind«, forderte Cornix sie erneut auf.
So zögernd wie zu Beginn des Gesprächs eröffnete Bernina der
Krähenfrau, dass Anselmos Leute ihr den Vorschlag gemacht hatten, sie bei ihren
Fahrten und Reisen zu begleiten.
»Begleiten? Du?«, stieß Cornix mit ihrem Zischen hervor.
Bernina nickte. »Ja, sie haben gesagt, ich könnte mit ihnen
kommen. Sie hätten jede Menge für mich zu tun und ich würde die Welt
kennenlernen.«
»Die Welt ist ein Kennenlernen nicht wert«, antwortete Cornix
voller Verachtung. »Wenn du hierbleibst, bist du wenigstens in Sicherheit.«
»Ich habe ja gar nicht zugesagt«, sagte Bernina kleinlaut, auch
wenn sie die offensichtliche Verärgerung der Krähenfrau als ungerecht empfand.
»Das hoffe ich für dich. Sei vernünftig und setze nicht dein Leben
für eine verrückte Idee aufs Spiel.«
»Übertreibst du damit nicht ein wenig?«
»Nein, das tue ich nicht. Außerhalb dieses Waldes herrscht Krieg.«
Und wiederum war da dieses Sonderbare in den kleinen funkelnden
Augen, das Bernina nicht zu deuten vermochte. Cornix spürt, dass da noch viel
mehr ist, erkannte Bernina und unwillkürlich erschienen weitere Bilder der
letzten Tage vor ihren Augen. Bilder ihres Kusses. Nach seinem ersten Versuch
hatte Anselmo es zunächst einmal nicht mehr gewagt, Bernina näherzukommen. Doch
irgendwann war es passiert. Und diesmal hatte Bernina es geschehen lassen. Es
war ein leidenschaftlicher Kuss gewesen, dem schließlich viele folgten. Sie
dachte an Umarmungen, an zärtliche Berührungen, an gegenseitiges Streicheln, an
das auffordernde Plätschern des Baches, verheißungsvoll wie das Versprechen auf
eine wunderschöne Zukunft.
Nein, sagte sich Bernina, von all dem kann ich Cornix einfach
nichts erzählen. Oder hat sie mich längst durchschaut?
Als könne die Krähenfrau ihre Gedanken lesen, sagte sie in diesem
Moment: »Ich nehme an, der Vorschlag, diesen seltsamen Leuten zu folgen, ist
von dem jungen Mann gekommen, den du erwähnt hast?«
»Nein«, beeilte Bernina sich zu antworten, »von allen. Nun ja«,
verbesserte sie sich dann. »Hauptsächlich von ihm.«
Jedenfalls war es dieser Vorschlag, der nun unentwegt durch
Berninas Kopf spukte, der sie nicht losließ. Zuerst hatte es sich so absurd
angehört, war allein der Gedanke daran so verwegen, so ungewohnt, dass es für
Bernina gar nicht infrage kam, an etwas Derartiges auch nur zu denken. Doch
dann …
Es war, als hätte sich mit diesem Vorschlag der Wald, der sie seit
so vielen Jahren umschloss, wie ein Vorhang geöffnet und ganz neue, unerwartete
Blicke möglich
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