Das Geheimnis der Krähentochter
sie
antworten sollte. Doch auf einmal war ihr klar, dass ihr Leben dabei war, sich
schon wieder zu verändern. Dass es eine neue Richtung erhielt und sie sich nicht
dagegen zu wehren vermochte.
»Also?«
*
Bernina dachte, es wären die fahlen, sich langsam in die Hütte
schlängelnden Sonnenstrahlen, die sie zunächst blinzeln ließen, um sie dann
endgültig aus einem tiefen Schlaf zu holen.
Allerdings war es nicht der neue Tag, der sie
geweckt hatte. Es waren andere Strahlen, die von einer dunklen Ecke der Hütte
über ihr Gesicht hinweg glitten, sie aufzuspießen schienen.
Sie richtete sich auf und erkannte die Umrisse der Frau, die mit
gekreuzten Beinen auf der Erde saß und deren Augen sie so anfunkelten, wie sie
es vor allem in den ersten Tagen nach dem Überfall auf den Petersthal-Hof oft
getan hatten.
»Du bist wieder da«, meinte Bernina mit noch vom Schlaf belegter
Stimme.
»Ich bin wieder da«, entgegnete die Krähenfrau mit einem wachsamen
Nicken.
»Du warst lange fort, länger als sonst. Ich befürchtete schon, dir
wäre etwas zugestoßen.«
»Über drei Wochen saß ich in Gundelfingen fest. Die Leute dort
haben sich genauso verschanzt wie die Ippenheimer. Alle zittern in Todesangst
vor Arnim von der Tauber. So lange hat man sein Erscheinen gefürchtet. Jetzt
sind seine Truppen da. Die ersten Dörfer wurden bereits dem Erdboden
gleichgemacht.« Cornix verlagerte ihr Gewicht ein wenig und ließ Bernina keinen
Moment aus den Augen. »Gundelfingen zu verlassen, erschien mir zu gefährlich.
Außerhalb des Ortes türmen sich angeblich schon die Leichen.«
»Mein Gott.« Bernina war nun vollkommen wach, hörte aufmerksam zu.
»Aber schließlich machten die Truppen einen Bogen um Gundelfingen.
Was auch immer ihr Ziel sein mag, sie haben zunächst einmal die Richtung
geändert.«
»Und du hast den ganzen Weg bis hierher in einem Stück
zurückgelegt?«
Wiederum dieses Nicken, mit diesem Blick, der Bernina irgendwie
verändert vorkam. »Ja, den ganzen Weg. Aber ich wäre auch so aufgebrochen, ganz
egal, was Arnim von der Tauber gemacht hätte. Plötzlich hatte ich es wirklich
eilig.«
»Plötzlich? Aus welchem Grund?« Bernina hatte keine Ahnung, worauf
diese Unterhaltung hinauslaufen würde. Eigentlich war sie es gewesen, die sich
vorgenommen hatte, mit Cornix ein Gespräch zu führen. So viel war inzwischen
passiert.
»Warum ich es so eilig hatte?« Die
Krähenfrau zeigte ein kurzes, kaum zu deutendes Lächeln. »Wegen eines seltsamen
Gefühls, das mich auf einmal erfasste. Es war, als würde mich irgendeine Macht
zurück zu meiner Hütte zwingen. Schwer zu beschreiben.«
Bernina sah sie nur an.
»Ein Gefühl, eine Ahnung, die mir zuraunte«, fuhr Cornix fort,
»ich müsse hier sein, bevor du eine Dummheit begehen könntest.«
»Eine Dummheit?« Bernina fühlte sich
ertappt, und das, obwohl sie der Krähenfrau doch keine Rechenschaft schuldig
war.
»Ja, genau. Eine Dummheit.« Die Krähenfrau schob ihr Kinn nach
vorn, und das Funkeln in ihren Augen wurde stärker. »Was hast du erlebt?«
Diese Frau konnte man nicht täuschen. Wie sie Bernina so musterte,
schlich sich etwas Sonderbares in ihren Blick. Zum ersten Mal seit Langem
musste Bernina daran denken, dass Cornix in Teichdorf und Ippenheim Hexe
genannt wurde und sich viele Frauen bei ihrem Erscheinen verstohlen
bekreuzigten.
»Du hast doch etwas erlebt, oder?«, wiederholte die Krähenfrau.
Bernina fühlte sich plötzlich unter Druck gesetzt und ihre
Anspannung wuchs. Die Menschen auf dem Petersthal-Hof hatten immer gesagt,
Cornix verfüge über das zweite Gesicht, könne Dinge sehen, die sich weit
entfernt abspielten. Daran musste sie jetzt denken.
»Worauf wartest du?«, drängte Cornix. »Erzähl mir von den
vergangenen Wochen. Waren sie schön für dich?«
Ganz langsam kamen die Worte, eines nach dem anderen schlüpften
sie über Berninas Lippen, während sie von der Krähenfrau nicht aus den Augen
gelassen wurde. Ihre Stimme flatterte durch die Hütte, als sie erzählte. Davon,
wie wundervoll die letzten Tage gewesen waren. Von den Menschen, die plötzlich
am Rande des Waldes, am Rande von Berninas kleiner Welt Gestalt angenommen
hatten. Nach anfänglicher Zurückhaltung berichtete sie freimütiger von ihren
Erlebnissen. Von abendlichen Feiern mit Tänzen, Musik und der stets
vorherrschenden guten Laune. Von Tagen mit Sonnenschein und heiterer Stimmung,
in denen Bernina den Fremden in unterschiedlicher Weise unter die
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