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Das Geheimnis der Krähentochter

Das Geheimnis der Krähentochter

Titel: Das Geheimnis der Krähentochter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Oliver Becker
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Vorfällen berichten, die sich weit weg von hier
abspielen oder sich vor langer Zeit zutrugen.«
    Bernina überlief eine Gänsehaut. Auf einmal war die Atmosphäre in
der Hütte vollkommen verändert. Etwas Kaltes lag in der Luft, etwas
Unheimliches.
    Erst nach und nach kehrte die Klarheit in die Augen der Krähenfrau
zurück, erst nach einer ganzen Weile suchte ihr Blick wieder Bernina.
    »Es gibt nicht nur die Welt, die du kennst, die Welt, die du jeden
Tag siehst.« Ein wenig leiser fügte sie hinzu. »Es gibt noch eine andere Welt,
eine, die man nicht erblicken kann. Und doch ist sie da. Irgendwo.«
    Bernina war verunsichert und fühlte sich hilflos.
    »Denke einfach daran«, flüsterte Cornix, »dass es zu gefährlich
ist, da draußen. Viel zu gefährlich. Unsere Wälder sind der beste Schutz, den
es gibt.«
    »Ich kann dir nicht versprechen …«
    »Versprechen brauchst du mir nichts«, fiel ihr die Krähenfrau ins
Wort. »Aber falls du jemals wieder irgendwelchen Fremden begegnen solltest,
sage niemandem, dass du zum Petersthal-Hof gehört hast. Dieser Hof ist
verflucht.«
    »Verflucht?«
    »Hast du nie bemerkt, dass kein Mensch mit jemandem vom Hof
spricht?«
    »Das ist doch nicht wahr.«
    »Und ob es das ist. Sicher, die Leute haben euer Vieh gekauft.
Weil es gutes Vieh war. Sie haben Geschäfte mit Vogt gemacht, weil er ein
zuverlässiger Mann war, aber es gab nie tiefe, freundschaftliche Beziehungen zu
anderen, oder? Ihr hattet nie Gäste. Nie erschienen Verwandte bei den Vogts.
Und auf dem Markt in Teichdorf, da kam es nie zu längeren Plaudereien wie bei
anderen Menschen. Habe ich recht?«
    Bernina ließ die Worte auf sich wirken. »Nun ja, schon möglich.
Ich dachte, das lag daran, dass wir eben sehr zurückgezogen lebten,
dass …« Sie verfiel in Schweigen.
    Die Krähenfrau beugte sich vor, bohrte ihren Blick in Berninas
Augen. »Du musst den Versuchungen widerstehen. Gib niemals den Schutz der
Wälder auf, Bernina. Wenn du von hier fortgehst, wirst du unwiderruflich auf
den Weg gelangen, der zum Teufel führt. Das haben mir die Stimmen gesagt, und
sie irren sich niemals.«
    Bernina schwieg weiterhin. Sie hatte auf einmal das Gefühl, kaum
noch atmen zu können.
    »Wenn du das tust«, wiederholte die Krähenfrau, »wirst du auf den
Weg gelangen, der zum Teufel führt.«
     
    *
     
    Kälte waberte aus der Erde auf und kroch an den Stämmen der
Rottannen empor. Es schien, als wären die Jahreszeiten durcheinandergeraten.
Nach den vielen warmen, sonnigen Tagen hatte sich an diesem Morgen in den
Tälern eine frostige Schicht gebildet, die bei jedem Schritt leise unter
Berninas Füßen knirschte.
    Über den Baumwipfeln spannte sich eine
dunkle Wolkenschicht, die die gerade aufgegangene Sonne nicht zu durchdringen
vermochte. Die ersten eisigen Regentropfen erreichten Berninas Haar, und sie
zog die Decke, die sie mitgenommen hatte, enger um die Schultern. Es war
dieselbe, die sie an jenem Morgen getragen hatte, an dem der Reiter mit seiner
Meute aufgetaucht war.
    Später als beabsichtigt hatte Bernina die
Hütte verlassen. Schon bei tiefster Dunkelheit war sie wach gewesen, bereit für
diesen Schritt, doch Geduld war gefordert. Cornix hatte auf ihrer Schlafstelle
gelegen, bewegungslos, mit ruhigem, gleichmäßigem Atmen, und dennoch war
Bernina sich sicher gewesen, dass die Krähenfrau nicht schlief. Erst bei den
ersten zögerlichen Anzeichen von Tageslicht drangen Schnarchlaute zu Bernina,
Laute, die sie kannte und von denen sie sich dann doch überzeugen ließ.
    Bemüht kein noch so dürftiges Geräusch zu verursachen und mit
klopfendem Herzen war sie schließlich auf die Beine gekommen, die Blicke
abwechselnd auf ihre Beschützerin und die Hüttentür gerichtet.
    Mittlerweile hatte sie viele Meter zwischen sich und das einsame
Reich der Krähenfrau gebracht. Doch ihre Aufregung hatte sich nicht gelegt,
nicht im Geringsten. Immer wieder sah sie über die Schultern nach hinten, hielt
sie Ausschau nach der Gestalt in den dunklen Überwürfen. Bisher vergeblich.
    Das Grau des Himmels wurde tiefer, der Regen stärker. Bernina
drängte noch mehr zur Eile und wand sich geschmeidig zwischen Bäumen und
Sträuchern hindurch. Sie wusste nicht, ob es an ihrer Anspannung lag, aber der
Wald, der ihr doch so vertraut war, kam ihr in diesen Minuten viel größer, viel
undurchdringlicher vor als sonst. Außerdem schwebte die bange Frage über ihr,
ob sie zu spät war. Heute war der Tag, der Morgen, für den Anselmo

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