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Das Geheimnis der Krähentochter

Das Geheimnis der Krähentochter

Titel: Das Geheimnis der Krähentochter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Oliver Becker
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ohne die Lippen zu bewegen. Ich tue es, weil ich es tun muss. Weil ich
einfach nicht anders kann.
    Die Blicke brannten noch eine Weile auf ihr. Das unerklärliche
Summen allerdings verlor sich. Zum einen durch Anselmos vergnügtes Pfeifen,
aber auch von dem Gesang einiger anderer Leute aus der Gruppe, die unter der
Plane des Wagens saßen.
    Mit jedem Atemzug, mit dem die Wälder weiter zurückblieben, fühlte
Bernina, wie ihr Herz leichter wurde. Vor ihr lag die Welt, die sie nicht
kannte, die Welt, über der nun der Himmel langsam aufriss und ein paar blaue
Flecken präsentierte. Regentropfen waren noch in Berninas Haar, und sie
fröstelte leicht. Die Aufregung vor dem Ungewissen wirkte einschüchternd und ermutigend
in einem, erdrückend und befreiend zugleich.
    Ich bin bereit, sagte sie sich, bereit für alles, was kommen mag.
     
    *
     
    Immer höher spannte sich das Seil, auf dem sie tanzte. Zuerst war
es kaum einen Meter über dem Boden gezogen worden, dann mannshoch, nun schon in
einer Höhe, die Anselmo mit ausgestrecktem Arm gerade noch erreichte.
    Doch Bernina bewegte sich zusehends sicherer und geschmeidiger,
zunächst noch mithilfe eines Stabs, inzwischen frei, nur geschützt durch ihr
immer besseres Balancegefühl. Auch beim Jonglieren hatte sie schnell
Fortschritte gemacht, und von der eigenartigen Sprache, in der sich die Gruppe
oft unterhielt, verstand sie allmählich mehr.
    Das neue Leben war dabei, sie voll und ganz
aufzunehmen. Jeder Tag verlief anders, folgte seinem ureigenen Rhythmus. Ihr
Weg führte die Gruppe zwischen Waldstücken und sich sanft wellenden Wiesen
hindurch, über Hügelkuppen hinweg und entlang der Bäche und Flüsse. Bewohnte
Gegenden rückten näher.
    Bernina sah kleine Ansiedlungen, die sie an Teichdorf erinnerten.
Nervös brachte sie an Marktplätzen und Dorfbrunnen ihre ersten Auftritte vor
erwartungsvollen Augen hinter sich, und wenn die Menschen begeistert
klatschten, wurde Bernina von einer Woge erfasst, die neu für sie war. Neu und
sehr schön.
    Anselmo, der ihr vorher jedes Mal Mut zugesprochen hatte, sah sich
bestätigt. »Ich habe es gespürt, dass du zu uns gehörst. Und dass du das, was
du dir vornimmst, auch schaffst. Du solltest sehen, wie die Leute dich
anstarren, wenn du dich auf dem Seil bewegst. Du hast etwas, das sie in ihren
Bann schlägt. Das ist eine überaus seltene Gabe.«
    Nicht nur Anselmo, auch die anderen lobten Bernina. Die
Herzlichkeit, die sie bei ihrem ersten Eintreffen in dem Lager verspürt hatte,
war immer noch da. Und doch war sich Bernina niemals völlig sicher, ob es
wirklich allen recht war, dass sie dazugehörte. Sie stellten eine ganz
besondere Gemeinschaft dar, und Bernina war zunächst noch eine Fremde. Eine
bestimmte Person ließ sie das deutlicher spüren. Rosa, die sich selten, nicht
einmal bei Feiern am Abend, zeigte und die meiste Zeit über in dem
geschlossenen Wagen verbrachte, schien sie keineswegs ins Herz geschlossen zu
haben.
    Wenn die alte, dürre Frau ihr Quartier im Wagen verließ, um sich
mit den anderen zu unterhalten oder die eine oder andere Wunde zu behandeln,
spürte Bernina ihre Blicke auf sich. Abweisende, argwöhnische Blicke. Auch
wechselte Rosa, die innerhalb der Gruppe eine ganz besondere Stellung einnahm,
niemals ein Wort mit Bernina. Selbst dieses Schweigen war erfüllt von
unmissverständlicher Abweisung.
    Einmal erkundigte sich Bernina bei Anselmo, weshalb Rosa sich so
schroff gab. Doch auch er hatte darauf keine Antwort. »Wahrscheinlich liegt es
daran«, erwiderte er vage, »dass wir für gewöhnlich niemanden in unsere
Gemeinschaft aufnehmen. Rosa stand Einflüssen von außen immer schon
misstrauisch gegenüber. Wir müssen für uns bleiben, sagt sie immer. Was von
draußen kommt, ist nicht gut.«
    »Aber ich will ihr gewiss nichts Böses, weder ihr noch sonst
jemandem von euch.«
    »Mach dir keine großen Gedanken darüber. Sie ist alt und ein wenig
verschroben. Aber für unsere kleine Gruppe ist sie unersetzlich. Sie ist unsere
Heilerin, unser guter Geist. Sie liest in unseren Augen.«
    »Was hat sie nur gegen mich?«
    »Vermutlich hat sie gar nichts gegen dich als Mensch. Wie gesagt,
Rosa ist alt, sie muss sich erst daran gewöhnen, dass es ein neues Gesicht in
unserer Mitte gibt.«
    »Wenn du meinst.«
    »Übrigens«, er lachte, »ein sehr schönes Gesicht.«
    Allen war klar, dass Anselmo und Bernina mehr verband als nur
Sympathie – spätestens seit jenem Kuss auf dem Planwagen. Doch

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