Das Geheimnis der Krähentochter
das
Weiterziehen seiner Truppe angekündigt hatte.
Die Bäume präsentierten sich wie eine
schwarze Wand, und das Ende des Waldes kam einfach nicht in Sicht. Mit
Unbehagen nahm Bernina die Nebelfetzen zur Kenntnis, die sich in der kalten
Luft bildeten, kleine Wolken, die erneut unliebsame Erinnerungen an jenen
gewaltvollen Morgen hervorriefen, der nun schon eine Weile zurücklag. Es roch
nach Moos und Harz, nach feuchtem Laub.
Trotz der kühlen Witterung hatte sich Schweiß auf Berninas Stirn
gebildet. In ihren Lungen war ein Brennen. Der Weg zum Waldrand, dorthin wo die
grauen Felsen wie von einem Riesen hingewürfelt lagen, schien nicht zu enden.
Dann schon wieder eine Erinnerung an den schlimmsten Tag in
Berninas Leben. Ein Summen. Eine Kinderstimme.
Irgendwo in der Stille ringsum, die bislang nur durch das
beständige Tröpfeln des Regens gestört wurde, flirrte wieder dieses Geräusch.
Bernina hörte es. Sie war sich sicher. Oder doch nicht?
Sie blieb stehen, orientierte sich neu, lauschte konzentriert in
den Wald, der sich enger um sie herumzuschieben schien. Ihr Blick kreiste, und
innerlich machte sie sich bereits darauf gefasst, das blaue Seidenkleid zu
sehen oder die kleinen Augen der Krähenfrau, die vor Enttäuschung, Zorn und
Furcht stärker denn je funkeln würden.
Unwillkürlich presste Bernina die Hände auf das Haar über ihren
Ohren. Sie hörte nichts mehr, spähte nicht mehr, sie lief nur noch weiter, in
die Richtung, in der sich diese unendlich vielen Bäume doch endlich lichten
mussten. Aber das Summen war noch da, sie konnte es nicht mehr hören wie zuvor,
dafür schien sie es irgendwie zu spüren, als wäre es tief in ihr, ebenso wie
sie die Blicke der Krähenfrau auf sich zu fühlen glaubte.
Noch schneller als zuvor lief sie, mit
langen, immer längeren Schritten. Als sie schon befürchtete, sich die ganze
Zeit über im Kreis bewegt zu haben, bildeten die Bäume eine Gasse, gaben
schließlich den Weg frei, und der erdige Boden unter ihr verwandelte sich in
einen Teppich aus wild wucherndem Gras.
Über ihr der bleigraue Himmel, aus dem der
Regen prasselte. Bernina blieb stehen, den Wald im Rücken, vor ihr ein großer
Felsblock, und von irgendwoher drangen Pferdeschnauben und Hundegebell. Sie
lief weiter, umrundete den Felsen, und in der trüben Umgebung leuchteten
plötzlich zwei hellblaue Punkte auf.
Es war der Blick aus Anselmos Augen, die
Bernina entdeckt hatten. Er rief ihren Namen, und der Klang seiner Stimme hatte
etwas Erlösendes. Das Summen war weg, auch diese funkelnden Augen gab es nicht
mehr. Sie legte die letzten Schritte zurück und ließ sich von Anselmo auf den
Bock des ersten Planwagens ziehen.
In der einen Hand die Zügel, die andere um
Berninas Leib gelegt, gab er ihr einen langen Kuss, den ersten, den sie sich
vor den Augen der anderen schenkten. Bernina saß ganz dicht neben Anselmo, der
die Pferde mit einem Schnalzen der Zunge antrieb.
Er ließ Bernina erst einmal zu Atem kommen,
dann sah er sie an. »Ich wusste ganz genau, dass du kommen würdest. Selbst
nachdem wir aufgebrochen waren und alle meinten, ich würde dich nie wieder
sehen, war ich überzeugt, dass du kämst. Und du bist da.«
»Wie konntest du dir so sicher sein?«
»Weil wir wie zwei Teile sind, die genau
zueinanderpassen.« Anselmo lachte kurz auf. »Nun ja, wir ergänzen uns eben sehr
gut. Dein Haar ist hell, deine Augen sind jedoch ganz dunkel. Bei mir ist es
genau umgekehrt.«
Bei diesen Worten musste auch Bernina lachen.
»Und das reicht?«
»Aber natürlich«, erklärte er mit unerschütterlicher Gewissheit.
»Wir gehören zusammen.«
Sie musterte ihn von der Seite, fasziniert von seinem Temperament,
von seiner Lebendigkeit, und widerstrebend wanderte ihr Blick dorthin, wo die
Bäume diese schwarze Wand bildeten, die Bernina von der Welt getrennt hatte.
Jetzt spürte sie eine andere Aufregung in sich als auf dem Weg von
Cornix’ Hütte hierher. Hatte sie die richtige Entscheidung getroffen? Wie hatte
die Krähenfrau das Ganze genannt? Eine verrückte Idee. Womöglich war es genau
das. Doch nun war es zu spät für eine Umkehr.
Erneut glitten Berninas Blicke entlang des Waldes, und für einen
verschwindend kurzen, fast nicht wahrnehmbaren Moment meinte sie, die Augen auf
sich gerichtet zu sehen. Mit der gleichen Mischung aus Enttäuschung, Zorn und
Furcht, die Bernina sich zuvor im Wald vorgestellt hatte.
Das tue ich nicht, um dir Schmerz zuzufügen, Cornix, sagte Bernina
lautlos,
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