Das Geheimnis der Krähentochter
selbst
diese an sich unkonventionelle Gruppe lebte nicht ohne Regeln. Unter ihnen gab
es nur zwei verheiratete Paare mit Kindern, die sich in den Nächten einen der Wagen
teilten. Der zweite war für die Männer, darunter Anselmo, im dritten schlief
Bernina gemeinsam mit den anderen Frauen. Auch wenn sich hier und da tiefere
Gefühle entwickelten, so durften nur Verheiratete auch wirklich als Paar leben.
Darauf achtete Rosa mit eiserner Strenge. Sie übernachtete allein in dem
auffälligsten der Wagen und genoss von allen Mitgliedern der Gruppe den größten
Respekt. Bei sämtlichen Fragen wurde sie um Rat gebeten.
Ansonsten gab es bei den Gauklern kein
wirkliches Oberhaupt, obgleich Bernina von Anfang an gespürt hatte, dass
Anselmo innerhalb dieses eigenwilligen Gefüges eine besondere Rolle einnahm.
Dass er noch nicht vollständig als Anführer betrachtet wurde, lag
wahrscheinlich lediglich daran, dass er noch recht jung war. Auf jeden Fall
wurde auch auf seine Meinung bei allen Entscheidungen, die die Gruppe betrafen,
großen Wert gelegt.
Den Krieg im Rücken, ließen sich die Gaukler in südlicher Richtung
treiben. Dabei streiften sie noch ein paar Mal die Ränder des Schwarzwaldes,
bis diese dunkle Insel inmitten der Landschaft vorerst aus dem Blickfeld
verschwand. Sie erreichten weitere Ansiedlungen, die zwar von Armeen noch nicht
in Mitleidenschaft gezogen wurden, sich aber auf Überfälle und Einmärsche
marodierender Söldnerheere vorbereiteten.
Die Menschen empfingen die mit lauter Musik auf sich aufmerksam
machenden Neuankömmlinge erfreut. »Gaukler!, riefen sie und sahen zu, dass
Freunde und Bekannte rasch von der Neuigkeit erfuhren. Das, was Anselmo und
seine Gruppe zu bieten hatten, stellte eine willkommene Ablenkung dar
angesichts der Meldungen voranrückender Soldaten. Feuer und Degen schlucken,
jonglieren, auf den Händen laufen, Musik, Seiltanz und noch mehr. Überall
gierte man danach.
Zumeist blieben sie mehrere Tage lang. Sie
zeigten immer wieder ihre Kunststücke, tauschten Waldkräuter oder frisch
erlegte Hasen gegen warme Mahlzeiten, Bier, Wein und neue Kleidung.
Wochen vergingen, ein Monat zog dahin, ein zweiter kam und löste
den vorhergehenden auf. Der Sommer hingegen blieb, die Sonne strahlte auf die
Wagen der Gauklertruppe herunter, bei der Bernina offenbar ihren Platz gefunden
hatte. Sogar die Nächte waren warm, und alle außer Rosa schliefen oft unter dem
klaren Sternenhimmel.
Gerne hätte Bernina noch mehr Zeit mit
Anselmo verbracht. Er war ihr immer vertrauter geworden, hatte sie täglich beim
Seiltanz unterrichtet, aber für sich, zu zweit, waren sie so gut wie nie. Noch
in Berninas Heimatwäldern hatten sie sich öfter einmal für eine Stunde
wegschleichen können, inzwischen war das nicht mehr möglich. Die Tage waren
erfüllt vom Reisen und vom Einüben der Kunststücke, vom Errichten des Lagers,
vom Kochen und Reparieren der Ausrüstung, vom Pflegen der Pferde. Auch Anselmo
wünschte sich mehr Zweisamkeit. Aber mehr als ein rascher, unbeobachteter Kuss,
eine flüchtige Umarmung oder das Ineinanderschmiegen ihrer Hände war ihnen
nicht vergönnt.
Dennoch konnte sich Bernina nicht erinnern, jemals zuvor auch nur
annähernd so glücklich gewesen zu sein. Ihr neues Leben war aufregend. Wie gern
hätte sie Hildegard davon berichtet. Die Erinnerung an deren Ende verblasste
nie, vor allem nachts nicht. Manchmal träumte sie von ihrer Freundin, hörte
deren Schreie. Von dem schwarzen Reiter träumte Bernina ebenfalls in gewissen
Abständen. Auch wenn sie ihn nur einmal zu Gesicht bekommen hatte, sah sie ihn
in diesen Träumen dennoch mit einer Klarheit, als wäre er ihr viel vertrauter.
Seine eiskalten Augen ließen sie aus dem Schlaf hochfahren, in Schweiß gebadet,
mit zuckenden Lippen.
Nur die Krähenfrau tauchte niemals in Berninas Träumen auf.
Trotzdem dachte sie oft an sie, für gewöhnlich mit schlechtem Gewissen, weil
sie sie damals ohne ein Wort verlassen hatte. Andererseits war es Bernina klar,
dass Cornix sie niemals hätte gehen lassen, sondern alles daran gesetzt hätte,
Bernina vom Bleiben zu überzeugen. Immer wieder dachte Bernina auch daran, was
die Krähenfrau über den Überfall auf den Petersthal-Hof gesagt hatte. Über das
Geheimnis, das den Hof angeblich umgab. Darüber, dass er verflucht sei und Bernina
gegenüber niemandem ein Wort über ihre Herkunft verlieren sollte.
Bei solchen Gedanken konnte sie nicht anders, als immer wieder
einen verstohlenen
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