Das Geheimnis der Krähentochter
Blick auf die Zeichnung zu werfen, die das kleine Mädchen
zeigte. Die Skizze war Berninas einzige Verbindung zu ihrem früheren Leben.
Auch deshalb hatte sie sie den anderen nie gezeigt, nicht einmal Anselmo. In
aller Stille das kleine Mädchen zu betrachten, löste stets eine merkwürdige
Melancholie in Bernina aus.
Als ein neuer Monat begann, prasselte tagelang Regen auf die Erde,
dann kehrte die Sonne zurück, ebenso kraftvoll wie zuvor. Seit dem lange
zurückliegenden Morgen, an dem Bernina in einem ähnlich starken Regen zum
ersten Mal neben Anselmo auf dem Bock Platz genommen hatte, hatten die Wagen
einen großen Bogen beschrieben. Sie näherten sich jetzt wieder der Gegend, die
Bernina vertrauter war, und öfter als sonst warf sie einen kurzen Blick auf die
Zeichnung.
Es war nicht mehr weit bis Ippenheim. Obwohl Bernina in diesem
Gebiet aufgewachsen war, hatte sie den Ort niemals besucht. Weiter als bis zu
dem inzwischen verlassenen Teichdorf war sie nie gekommen. Sie erinnerte sich
noch gut daran, was die Krähenfrau über Ippenheim gesagt hatte. Wie sehr man in
der Stadt einen Angriff einer fremden Armee fürchtete.
Doch als sie Anselmo darauf ansprach, reagierte er äußerst
gelassen. »Ich weiß davon«, erwiderte er. Sie saßen wie gewohnt Seite an Seite
auf dem Bock des ersten Planwagens.
»Seit vielen Monaten lebt man dort mit der Bedrohung durch Arnim
von der Tauber«, fuhr Anselmo fort. »Aber offensichtlich hat man unnötig Angst
gehabt. Nach allem, was ich in den letzten Ortschaften gehört habe, hat Arnim
einen anderen Weg gewählt und woanders gewütet. Ippenheim atmet jedenfalls
wieder auf. Viele Menschen, die sich aus den umliegenden Dörfern in die Stadt
geflüchtet hatten, sind sogar in ihre Häuser zurückgekehrt.«
»Bist du sicher?«
»Ach, wer kann da schon sicher sein? Aber ich glaube, wenn
Ippenheim wirklich ein Ziel wäre, dann wären die Soldaten dort schon längst
aufgetaucht.«
»Hoffentlich behältst du recht.«
»Übrigens, ich habe eine Überraschung für dich.«
»Eine Überraschung?« Lachend sah sie ihn an. »Was denn?«
»Abwarten.«
»Sag schon!«
»Nein.« Mit seinen Fingerspitzen fuhr er ihr sanft über die Wange.
»Einfach noch ein bisschen abwarten.«
An einem Fluss schlugen sie ihr Nachtlager auf. Nachdem die Pferde
versorgt waren, stoben schon bald die Funken des Feuers dem dunkler werdenden
Himmel entgegen. Sie aßen gemeinsam, auf Decken in einem Kreis sitzend, und
legten die Route für den folgenden Tag fest. Es wurde notwendig, die Vorräte
aufzustocken, und deshalb einigten sie sich darauf, den Weg nach Ippenheim zu
nehmen.
Wie schon zuvor gegenüber Bernina, betonte Anselmo, dass die Stadt
keine Gefahren berge. »Das Kriegsgeschehen«, setzte er hinzu, »spielt sich viel
weiter nördlich ab.«
Als die ersten Sterne auf das Lager hinableuchteten, begann
Anselmo mit einer kleinen Vorführung, wie sie oft am Abend abgehalten wurde.
Das war üblich und diente sowohl der eigenen Unterhaltung als auch der Übung.
Er tanzte, begleitet lediglich von einem zart angeschlagenen Saiteninstrument,
zeigte ein paar akrobatische Saltos und ging dann über zu kleinen Zaubertricks,
die er auch regelmäßig dem staunenden Publikum in den Ortschaften präsentierte.
Plötzlich fiel er vor Bernina auf die Knie, seine Augen auf ihr
Gesicht gerichtet. Der Feuerschein spiegelte sich in dem dichten schwarzen Haar
wider, und auf seiner Stirn standen ein paar winzige Schweißperlen. Wie er es
bereits einmal getan hatte, zauberte er aus Berninas Haar eine Blume hervor.
Er lächelte, sagte aber kein Wort. Um sie beide herum hatte sich
eine erwartungsvolle Stille ausgebreitet. Alle Blicke lagen auf ihnen.
Dann noch eine Blume und noch eine und noch viele, viele mehr.
Jede einzelne bettete er behutsam in ihren Schoss, um schließlich ein letztes
Mal seine geschickten Finger spielerisch in ihr blondes Haar zu tauchen.
Bernina fühlte die Bedeutung des Augenblicks.
Anselmos Finger schwebten wieder vor ihre Augen – und diesmal
hielten sie keine Blumen.
Sondern einen goldenen Ring.
Bernina sah, wie seine Zungenspitze kurz über seine Lippen zuckte.
Leise sagte er: »Willst du mich heiraten?«
Bernina war sprachlos.
»Willst du mich heiraten und für immer mit mir zusammen sein?«
Um sie herum wurde gekichert, aber keiner von ihnen beiden hörte
das.
»Aber …«, fand Bernina langsam ihre Worte wieder. »Aber
können wir denn einfach so heiraten?«
Das Kichern setzte
Weitere Kostenlose Bücher