Das Geheimnis der Krähentochter
Wort an Bernina. »Wie ich höre«, sagte
sie leise, »hat Anselmo dich gebeten, seine Frau zu werden.«
Bernina nickte mit geschlossenen Lippen.
»Und jetzt? Bist du glücklich?«
»Mehr als jemals zuvor in meinem Leben.«
Rosa lachte auf, allerdings war in diesem
Krächzen keine Freude herauszuhören. »Und Anselmo? Ist er auch glücklich?«
»Ja, das ist er.«
Rosas Gesicht war nachdenklich zerfurcht. »Hhm.«
»Dann wirst du uns also trauen?«
Im Blick der Alten blitzte etwas auf. Mit winzigem Zeigefinger
deutete sie auf das kleine Fenster, das sich neben der Eingangstür befand und
mit dunklem Stoff verhängt war. »Sieh nach draußen und sage mir, was dir
auffällt.«
Ohne vom Boden aufstehen zu müssen, konnte Bernina den Vorhang
beiseiteschieben und einen Blick nach draußen werfen. Anselmo und die anderen
bereiteten alles für den Aufbruch vor. Gerade wurden die Pferde angespannt.
»Was soll mir auffallen?«
»Nicht unbedingt in unserem Lager.«
Nun erhob sich Bernina doch. Ihr Blick wanderte über den Fluss,
die Bäume an dessen Ufer und das sich dahinter ausbreitende Land.
Rosas Stimme drang verdächtig leise zu ihr. »Betrachte den letzten
Baum.«
Erst jetzt fielen Bernina die Vögel auf, die sich auf seinen Ästen
niedergelassen hatten, bewegungslos, ihre Augen offenbar auf das Lager
gerichtet. Es waren Krähen.
»Was ist mit diesem Baum?«, fragte Bernina und setzte sich wieder
zu Rosas Füßen.
»Mit dem Baum gar nichts. Aber mit den Krähen. Sie sind bei uns,
seit du bei uns bist.«
»Wie könnte das sein? Das sind irgendwelche Krähen. Nichts
weiter.«
»Nichts weiter?« Rosa winkte gereizt ab. »Ich sage dir, ich
beobachte diese Vögel. Genau diese Schar ist seit jenem Tag bei uns, an dem du
zu uns gestoßen bist. Immer sind sie da. Morgens, wenn wir aufbrechen, fliegen
sie los. Und abends versammeln sie sich in unserer Nähe.«
»Verzeihung, aber das ist doch Unsinn.«
»Sei nicht so frech«, schnaubte Rosa sie auf einmal laut an.
»Diese Krähen verfolgen uns. Sie krächzen nicht, sie fressen nicht, sie starren
nur immerzu zu uns herüber. Du hast sie mitgebracht. Sie sind Boten des Todes.«
Jetzt konnte Bernina sich nicht mehr beherrschen. »Du willst nur
nicht, dass Anselmo und ich zusammen sind.« Sie stand auf und blickte auf die
alte, sitzende Frau herunter. »Du kannst mich nicht leiden. Das ist alles. Du
konntest mich vom ersten Moment an nicht leiden.«
Rosa blieb äußerlich völlig ruhig. »Was heißt das schon? Darum
geht es nicht.«
»Worum geht es dann?«
»Schon als ich zum ersten Mal in deine schönen dunklen Augen sah,
wusste ich, dass an dir etwas anders ist. Mir ist nur noch nicht klar, was.«
Rosa verlagerte ihr Gewicht auf dem Hocker. »Ich habe dich beobachtet. Aber ich
sah dieses Etwas einfach nicht. Doch von jenem ersten Moment an spürte ich,
dass du Unglück bringst.«
Bernina sah sie durchdringend an. »Wie kannst du nur so etwas
behaupten?«
»Du bringst die Krähen, und sie bringen den
Tod. Ich habe in den Stein der Wahrheit gesehen. Darin war Blut. Immer und
immer wieder habe ich hineingesehen. Blut. Du darfst Anselmo nicht heiraten!
Und du musst uns verlassen. Je schneller, desto besser.«
Die Alte erhob sich, und in dem Blick aus ihren harten Augen
schien sogar eine gewisse Furcht aufzuschimmern. »Ich bitte dich darum! Sonst
wird Anselmo umkommen. Der Tod ist dein Begleiter«
»Das ist nicht wahr.«
»Sieh selbst in den Stein der Wahrheit, du Krähentochter.«
Plötzlich wirkte die Luft im Wagen anders, sie war kalt und heiß
zugleich. Auch dunkler kam es Bernina vor. Selbst das Sonnenlicht schien sich
keine Bahn mehr brechen zu können. Allein von dem Stein ging Helligkeit aus, er
zog Berninas Blicke geradezu magisch auf sich.
Zögernd kniete sie sich vor das Tischchen, auf dem der Stein der
Wahrheit lag. Sie starrte darauf und registrierte sonst nichts mehr, nicht
einmal Rosa. Der Stein glänzte, seine Zacken waren so scharf, dass man sich
daran gewiss die Haut aufreißen konnte, und in seiner Mitte entstand Leben.
Bernina schob sich noch ein Stück näher an den Stein, und dann sah
sie etwas in seinen Kratern, als würde sie ihn aus weiter Entfernung oder von
einem Berggipfel aus beobachten.
Sie meinte ein kleines blondes Mädchen mit wunderschönem
hellblauem Seidenkleid zu erblicken, ein hübsches Kind, das allerdings schnell
wieder in einem Nichts verschwand, aus dem ebenso schnell Reiter
hervorgaloppierten, Männer, die mit
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