Das Geheimnis der Krähentochter
Waffen schossen und um sich schlugen. Doch
sie verschwammen bereits, wurden von einem dicken Rot überzogen. Blut, dieses
Rot war Blut. Und auf einmal erkannte Bernina Anselmo, seine strahlenden Augen
gebrochen, das Leben strömte aus ihm hinaus, ebenso wie das Blut, das sich auf
seiner Brust ausbreitete. Ein roter See, in dessen Mitte etwas aufragte: der
hölzerne Schaft eines Messers.
Bernina erkannte, dass jemand den Schaft dieses Messers festhielt.
Jemand mit langem honigblondem Haar. Sie selbst war es, die das Messer hielt.
Und von irgendwo drängte sich Rosas Stimme wieder in ihr
Bewusstsein: »Was siehst du, Krähentochter? Was siehst du in dem Stein der
Wahrheit?«
*
Zunächst hatten die Wagen zwei schwer bewaffnete Wachposten
passieren müssen, Söldner, die sich nach den Absichten der Gruppe erkundigten,
bevor sie sie mit missmutigen, unfreundlichen Mienen weiterfahren ließen.
Bernina sah den Schutzwall, von dem ihr
Cornix berichtet hatte. Kutschen, Planwagen und Karren waren zusammengeschoben,
gefällte Bäume übereinandergeschichtet worden, allen möglichen Plunder hatte
man sich zunutze gemacht. Noch vor dieser kuriosen Wand entstand gerade ein
weiterer Wall. Männer in zerschlissener Kleidung, beaufsichtigt von
zusätzlichen, bedrohlich aussehenden Söldnern, waren damit beschäftigt, mit
Schaufeln, Hacken und teilweise mit den bloßen Händen Erdreich aufzuschütten,
das bereits eine ziemliche Höhe erreichte.
Einer der Arbeiter gönnte sich eine kurze Verschnaufpause, doch
drei oder vier brutale Schläge mit einem Ochsenziemer trieben den erschöpft
wirkenden Mann sofort wieder an.
Bernina und Anselmo wechselten einen langen Blick. Keiner von
ihnen sagte ein Wort.
Unter einem makellos blauen Himmel zogen sie weiter, hinein in
eine Stadt, deren Aura etwas Düsteres vermittelte, wie schon der Blick auf die
ersten Gebäude und Kopfsteingassen Ippenheims klarmachte. Dennoch griffen die
Gaukler gewohnheitsmäßig nach ihren Rasseln und Flöten.
Diesmal allerdings war es anders als sonst, ganz anders. Keine
freudestrahlenden Gesichter, kein Gelächter, keine Zurufe. Die Menschen nahmen
die eintreffende Truppe durchaus zur Kenntnis, vielleicht stellte deren buntes
Erscheinungsbild für sie auch eine Erinnerung an bessere Zeiten dar, doch
Begeisterung kam nicht auf.
Bald gingen Anselmo und die anderen dazu über, die Instrumente
nicht mehr zum Klingen zu bringen. Die Stille, die den kleinen Wagenzug sofort
erfasste und die schon die ganze Zeit auf die Dächer des Ortes gedrückt hatte,
wurde so noch mächtiger, geradezu unheimlich. Bis auf das Klacken der
Pferdehufe auf Kopfsteinpflaster und das Quietschen der Wagen war Ippenheim von
Grabesruhe erfüllt.
Die Stadt war größer als jede der Ansiedlungen, die Bernina bisher
erlebt hatte. Mehr Straßen, höhere Gebäude, darunter eine eindrucksvolle
Kirche. Aber auch mehr Unrat, den ein sommerlicher Wind vor sich hertrieb, mehr
Ratten, die nicht davor zurückschreckten, bei Tageslicht über die Straßen zu
huschen. Nur weniger Menschen als erwartet waren zu sehen. Es war, als hätten
sich die Einwohner regelrecht verkrochen.
Auf dem Marktplatz, der sich seitlich der Kirche erstreckte,
wurden die Wagen angehalten. Anselmo entschied, dass er sich erst einmal allein
im Ort umsehen würde, um den Grund für die eigenartige Stimmung herauszufinden.
»Aber ich möchte mitkommen«, verlangte
Bernina. »Ich war noch nie in Ippenheim und möchte den Ort kennenlernen.«
»Damit musst du noch etwas Geduld haben.
Allein schon, wenn ich daran denke, wie dich die beiden Wachposten angestiert
haben, ist es mir lieber, du verschwindest unter der Plane des Wagens.«
»Angestiert? Das ist mir überhaupt nicht aufgefallen.«
»Mir aber«, sagte Anselmo knapp. »Ich kenne ein paar Leute in dem
Ort. Ich will sie aufsuchen und ihnen Fragen stellen. Dann sehen wir weiter.«
»Wie du meinst.«
Er zwinkerte ihr zu. »Bin bald zurück.«
Nachdenklich verfolgten Berninas Blicke seine schlanke Gestalt,
die sich über den nahezu ausgestorbenen Marktplatz Ippenheims entfernte. Wie er
es gewünscht hatte, zog sie sich dann in den Wagen zurück.
Während die anderen der Gaukler-Truppe die Pferde tränkten und
sich neben einem nahen Brunnen ungezwungen auf der Erde niederließen, blieb sie
allein unter der Plane. Mit den Gedanken war sie noch immer bei dem
merkwürdigen Gespräch mit Rosa. Kein Wort hatte sie Anselmo darüber gesagt.
Auch nichts davon, was sie in
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