Das Geheimnis der Krähentochter
in ihre
Gedanken. »Da habe ich wohl zu viel erzählt.«
»Nein. Es wird höchste Zeit, dass ich endlich mehr über die Welt
erfahre, in der ich lebe.«
»Ich glaube ohnehin«, meinte Anselmo nach einer kurzen Pause mit
verändertem Ton, »dass deine Traurigkeit mit etwas anderem zusammenhängt. Ist
es nicht so?«
Sie wich seinem Blick aus. »Da täuschst du dich.«
»Also ist es nicht so, dass du schon seit dem Gespräch mit Rosa
äußerst nachdenklich bist?« Seine Hand berührte ihren Arm. »Nun sag schon, was
ist los? Ich dachte, Rosa hätte dir viel Glück gewünscht und angekündigt, dass
sie uns verheiraten würde, nachdem wir Ippenheim verlassen würden. Aber
anscheinend hat sie etwas ganz anderes geäußert? So ist es doch, oder?«
»Nein, so ist es nicht.«
»Wir kennen uns vielleicht noch keine Ewigkeit, aber wir haben
eine Verbindung, die sehr stark ist. Das weißt du. Deshalb sehe ich dir sofort
an, wenn etwas nicht in Ordnung ist. Seit du bei Rosa warst, warte ich darauf,
dass du mit mir redest. Was bedrückt dich?«
So einfach diese Frage sein mochte, so schwer war es, eine
verständliche Antwort darauf zu finden. Bernina wusste ja selbst nur, dass ihre
Gedanken verrücktspielten, seit sie in Rosas seltsamen Stein gesehen hatte.
Sollte sie die schrecklichen Bilder darin einfach ignorieren, nicht mehr daran
denken und das Glück beim Schopf packen?
Was, wenn die Bilder des Steins Wahrheit werden würden?
»Gib mir noch ein wenig Zeit«, sagte sie schließlich. »Dann werde
ich dir alles erzählen, was mich beschäftigt. Jetzt kann ich es noch nicht
einmal in Worte fassen.«
Sie blieben stehen, und Anselmo legte seine Arme um sie, eine
Geste voller Gefühl und Zärtlichkeit. »Wenn wir erst verheiratet sind, wird
alles gut. Wir leben dann richtig zusammen, wie ein Paar eben, und können auch
öfter allein sein. Vielleicht kann ich einen Wagen besorgen, der nur uns beiden
gehört. Es wird schöner werden, noch viel schöner als bisher. Du wirst sehen.«
Er küsste sie auf die Lippen. »Und jetzt lass uns zurück zu den anderen gehen.
Ich habe das komische Gefühl, dass Ippenheim uns kein Glück bringt. Wir sollten
nicht noch länger abwarten, sondern den Ort sofort verlassen.«
Fast den gesamten Rückweg sprachen sie kaum noch ein Wort. Der
Wunsch, den Wagen zu besteigen und gemeinsam mit ihrer Truppe zu neuen Zielen
aufzubrechen, ließ sie ihre Schritte beschleunigen. Bernina rang weiterhin mit
sich, wie sie Anselmo von ihrem Erlebnis bei Rosa berichten sollte.
Als sie wieder den Marktplatz erreichten, blieben sie wie
angewurzelt stehen.
»Das kann doch nicht sein«, entfuhr es Anselmo.
Zum ersten Mal, seit sie ihn kannte, sah Bernina ihn fassungslos.
Von den Wagen, Pferden, Hunden und ihren Freunden war nichts mehr
zu entdecken.
Abgesehen von Eusebio. Er war der Feuerschlucker und Anselmos
wichtigster Gefährte in der bunten Truppe. Bis eben hatte er mit ziemlich
nervösem Gesichtsausdruck auf dem Brunnenrand gesessen, die Arme vor der Brust
verschränkt. Er erblickte Bernina und Anselmo und lief auf sie zu.
»Was ist passiert?«
»Eine Katastrophe«, rief Eusebio mit seinem stark rollenden
Akzent. Ratlos blieb er vor ihnen stehen und breitete seine Hände aus. »Sie
haben uns alles abgenommen. Einfach alles. Wagen, Pferde, Essensvorräte,
Werkzeuge, Ersatzkleidung. Sogar die Hunde haben sie mitgenommen.
Wahrscheinlich um sie zu töten und zu essen.«
Anselmo wirkte bereits wieder wesentlich gefasster. Bernina sah
ihm an, wie es hinter seiner Stirn zu arbeiten begann. »Wen meinst du mit
›sie‹?« Seine Stimme war völlig ruhig. »Ich nehme an, Soldaten des Kaisers?«
»Ja, sie hielten ihre Musketen auf uns gerichtet. Wie eine
erbärmliche Räuberbande. Die arme Rosa haben sie aus ihrem Wagen getrieben wie
ein Stück Vieh.« Eusebio schüttelte hilflos den Kopf. »Die feindlichen Truppen
sind offenbar viel näher, als bisher angenommen. Sie bereiten einen Angriff auf
Ippenheim vor.«
»Arnim von der Tauber und sein Gefolge? Ein Angriff?«
»Ja, und zwar sehr bald.« Eusebio holte tief Luft. »So hörte ich
es zumindest. Die Nachricht ging um wie ein Lauffeuer, und plötzlich waren noch
weniger Ippenheimer zu sehen als zuvor.«
In Anselmos Augen schlich sich ein harter Ausdruck. »Wo ist Rosa?
Und wo sind die anderen?«
*
Zusammengepfercht saßen sie beisammen. In einem Kreis um Rosa
herum, einfach auf dem Boden, der von Resten trockenen Heus übersät war. Vor
ihren
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