Das Geheimnis der Krähentochter
festzustellen,
wie man später einmal, wenn der Mensch hoffentlich ein wenig schlauer ist,
derart schlimme Wunden behandelt.«
»Vielleicht gibt es dann keine Kriege mehr.«
»So schlau«, erwiderte Poppel mit süffisantem Spott, »wird der
Mensch niemals werden.«
»Das befürchte ich auch.«
»Und das Schlimmste aller Übel«, fuhr Poppel
fort, »ist der Wundbrand. Als hätte ihn der Teufel persönlich erfunden. Es gibt
einfach nichts, was ich gegen ihn tun kann – außer zu amputieren. Der
Wundbrand wird noch verstärkt durch die schlechten und ungleichmäßig geformten
Bleikugeln. Die Soldaten fertigen sie häufig selbst an, abends am Lagerfeuer,
mithilfe von Kugelzangen. Die Zacken und scharfen Kanten solcher Kugeln
zerreißen die Organe der Opfer, sie lassen ihre Knochen zersplittern.«
»Die Schmerzen dieser Männer müssen
unvorstellbar sein.«
»Ein wichtiges Stichwort«, nickte Poppel. »Hätte ich wenigstens
etwas, mit dem ich die Schmerzen all dieser armen Kerle abschwächen könnte.
Manchmal werden sie ohnmächtig, aber eben nicht immer. Sie haben es ja selbst
erlebt, Bernina. Bei vollem Bewusstsein ein Bein abgesägt zu bekommen, muss wie
ein Abstecher in die Hölle sein.«
Während Poppel gesprochen hatte, waren Berninas Gedanken zurück zu
der Krähenfrau gewandert. »Was die Schmerzen betrifft«, meinte sie dann
nachdenklich, »da fällt mir gerade etwas ein.«
»Was, meine Liebe?«
»Ich habe eine Idee. Aber geben Sie mir bitte etwas Zeit.«
Ȇberraschen lasse ich mich gerne, Bernina. Und ich denke, Sie
sind, mit Verlaub gesagt, zu einigen Überraschungen fähig.«
Der Streifen blauen Himmels hatte sich dunkel verfärbt, und schon
bald fielen Regentropfen. Kälter wurde es, der Wald wirkte gleich noch ein
wenig abweisender.
»Ich kann mir nicht vorstellen, dass es noch weit ist«, murmelte
Poppel. »Oder dass wir irgendwie vom richtigen Weg abgekommen wären.«
»Kraubach scheint sich vor uns zu verstecken«, mutmaßte Bernina.
»Sieht ganz so aus.«
Er sprang vom Bock. Steifbeinig und müde wirkte er, jedoch immer
noch nicht willens, sich dieser Müdigkeit zu unterwerfen.
»Ich sehe mich einmal zu Fuß um. Vielleicht stoße ich auf einen
Pfad, auf irgendeinen Hinweis, der auf eine Siedlung schließen lässt.«
Bernina sah ihm hinterher, wie er zwischen den Bäumen verschwand
und offensichtlich auf eine Anhöhe zusteuerte, von der er sich wohl einen
besseren Blick auf die Umgebung erhoffte.
»Melchert Poppel«, sagte sie fast lautlos, ohne die Lippen zu
bewegen, »Sie sind wirklich ein ganz besonderer Mensch.«
Bald tauchte er wieder auf. »Wir haben es geschafft«, rief er ihr
zu. »Jedenfalls fast.«
»Wir sind am Ziel?«
»Ich habe eine Kirchturmspitze entdecken können.«
Sie setzten ihren Weg fort. Dunkel war es jetzt, beinahe, als wäre
der Abend schon gekommen. Poppel saß aufrechter auf dem Bock, in seinen Augen
mischte sich die Erschöpfung mit Anspannung. Also hatte er Bernina nicht
angelogen: Er wusste tatsächlich nicht, was sie erwartete.
Zwischen Baumkronen und tief hängenden Ästen nahmen auf einmal
Häuser Gestalt an. Auf fast unwirkliche Weise ragten sie vor Bernina und Poppel
auf, als wären sie eben noch unsichtbar gewesen, als könnten sie sich im
nächsten Moment wieder in Luft auflösen. Häuser, die beschattet von Wald und
dunkler werdendem Himmel etwas Verlassenes, Lebloses ausstrahlten, und die
gemeinsam eine kleine, versteckte Ortschaft bildeten.
Poppel zügelte die Pferde und betrachtete das, was sich vor seinen
Augen ausbreitete, mit sichtlichem Argwohn. Auf Bernina wirkte Kraubach wie
Teichdorf. Nur düsterer, unheimlicher, wie ein gespenstisches Zwillingsdorf.
Doch gleich fiel ihr wieder ein, dass die Krähenfrau damals gesagt hatte,
Teichdorf sei von den Bewohnern aus Furcht vor dem Krieg verlassen worden und
ein Geisterdorf geworden. Womöglich sah es heute genauso aus wie Kraubach, ja,
wahrscheinlich gab es inzwischen unzählige Dörfer, die dieses traurige Bild
vermittelten.
Trotz der unheimlichen Ausstrahlung Kraubachs löste der Ort schöne
Erinnerungen in Bernina aus. Sie sah etwas, das sich schon lange nicht mehr in
ihrem Gedächtnis gebildet hatte – den Markt am Teichdorfer Dorfplatz, die
auf Tischen und Decken ausgelegten Waren, die Menschen, die mit ihrem ganz
eigenen Zungenschlag sprachen.
Und zum ersten Mal seit etlichen Wochen dachte Bernina bewusst an
den Petersthal-Hof, an ihre Zeit, bevor der Reiter in Schwarz und sein
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