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Das Geheimnis der Krähentochter

Das Geheimnis der Krähentochter

Titel: Das Geheimnis der Krähentochter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Oliver Becker
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Gefolge
wie aus dem Nichts herangeprescht waren und alles verändert hatten. Sie dachte
an Hildegard, spürte, wie sehr sie ihre einzige Freundin immer noch vermisste,
auf ewig vermissen würde, und sie dachte auch an Wolfram Vogt, diesen gütigen
Mann, der immer freundlich mit ihr umgegangen war, obwohl sie nur eine seiner
Mägde war.
    »Kein sehr schöner Ort«, drang Melchert Poppels Stimme langsam in
Berninas Bewusstsein. »Aber Sie sehen so aus, als würde er Sie nicht
erschrecken. Woran denken Sie?«
    Ein etwas verlegenes Lächeln huschte über ihr Gesicht. »An
Zuhause, an die Gegend, in der ich aufgewachsen bin.«
    »Und wo ist das? Das haben Sie mir nie gesagt.«
    »Es war ein Hof, ein ehemals sehr schöner Hof. Der Petersthal-Hof.
Sie haben gewiss nie von ihm gehört.«
    Poppel sah sie mit einem merkwürdigen, abwägenden Ausdruck an, den
sie noch nicht an ihm kannte. »Nun ja«, wich er aus, »kümmern wir uns jetzt
erst einmal um Kraubach.«
    Bernina zuckte die Achseln, während der Arzt die Pferde wieder in
Bewegung setzte und sie dem ausgetrampelten Weg folgen ließ, der in die einzige
breitere, mit Steinen gepflasterte Straße Kraubachs mündete und vor der Kirche
endete.
    Die Gebäude waren solide gemauert, doch konnten sie keine Spur von
Wohlhabenheit vermitteln – eine arme kleine Siedlung am Rande der Welt.
Und eine offenbar verlassene. Kein Mensch auf der Straße, kein Gesicht an einem
der Fenster. Stille, die nur von Hufgetrappel auf dem Pflaster gestört wurde.
Berninas Erinnerungen waren rasch in den Hintergrund gedrängt worden, die
unheimliche unmittelbare Realität gewann wieder die Oberhand. Die Luft war
erfüllt von Feuchtigkeit, während sich der Himmel weiter verdunkelte. Eines der
Pferde schnaubte, ansonsten war es, als wäre eine große Glocke aus
Lautlosigkeit über Kraubach gestülpt worden.
    Poppel und Bernina wechselten einen ratlosen Blick.
    »Sieht so aus«, meinte der Arzt, »als ob sich keine einzige
Menschenseele mehr hier aufhält.«
    Er glitt vom Bock. Seine Stiefelabsätze ließen ein kurzes Klacken
erklingen, als er auf den Pflastersteinen aufkam. Bernina folgte ihm und
blickte sich noch einmal um. »Ich werde mich erst einmal um die Pferde kümmern,
ihnen Wasser geben«, meinte sie.
    Als Poppel nicht antwortete, sah sie ihn an. Sie folgte seinem
Blick, der auf irgendetwas neben der Kirche gerichtet war. Und Bernina
erschrak.
    Zwei Soldaten. Misstrauische Augen, zerfetzte Stiefel, abgerissene
Kleidung, die keinen Aufschluss darüber zuließ, zu welcher Armee sie gehören
mochten. Und Musketen, die auf Poppel und Bernina gerichtet waren.
    »Kein überaus freundlicher Empfang«, sagte der Arzt betont
gelassen.
    Einer der Soldaten spuckte aus. »Sie sind Poppel?«
    »Der bin ich.«
    »Wer ist diese Frau?«
    Blicke glitten an Berninas Körper hinauf und wieder herab.
    »Sie ist meine Gehilfin. Aber wer seid ihr, meine Freunde?«
    Die Musketen blieben im Anschlag. »Folgen Sie uns!« kam der
barsche Befehl.
    »Und meine Pferde, mein Planwagen?«
    »Darum können Sie sich später kümmern. Jetzt nehmen Sie Ihre
Sachen, die Sie für eine Operation brauchen, und folgen uns.«
    Poppel holte seine Tasche aus dem Wagen. »Von mir aus kann’s
losgehen«, sagte er, weiterhin mit dieser Gelassenheit, doch an einem kaum hörbaren
Unterton erkannte Bernina, dass er sich keineswegs sicher fühlte. Die beiden
Soldaten führten sie, der eine zwei Schritte vorneweg, der andere zwei Schritte
hinter ihnen, über einen schmalen Pfad an der Kirche vorbei. Dahinter nahm eine
enge Gasse ihren Anfang, die links und rechts von ein paar niedrigen, ebenfalls
leer stehend wirkenden Häusern gesäumt wurde.
    Bernina ging hinter Poppel, und so konnte sie nicht sehen, was
sich in seiner Miene abspielte. Seine Bewegungen wirkten steif und eckig –
gewiss nicht nur vor Müdigkeit.
    Die Gasse wurde von einer kleinen, von Bäumen bewachsenen Anhöhe
gestoppt. Hier war Kraubach also schon wieder zu Ende. Zu viert gingen sie
hintereinander diese Anhöhe hinauf, schweigend, hinein in den Wald, der sich an
den Ort schmiegte.
    Bernina fühlte ihren Herzschlag – und ganz deutlich die
Blicke des zweiten Soldaten auf ihrem Rücken. Mit der Zungenspitze fuhr sie
sich über ihre trocken gewordenen Lippen. Trotz des kühlen Abendwindes, der
sich rauschend durch den dichten Wald kämpfte, standen auf einmal Schweißperlen
auf ihrer Stirn.
    Ihr Blick fiel auf ein Haus. Ebenso wie zuvor das ganze Dorf war
es ganz

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