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Das Geheimnis der Krähentochter

Das Geheimnis der Krähentochter

Titel: Das Geheimnis der Krähentochter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Oliver Becker
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Poppel.
    Das Licht des neuen Tages drang durch das kleine Kammerfenster.
Die Platte des Tischs, zuvor noch übersät mit Poppels Utensilien, war
aufgeräumt worden. Auch von seiner großen Tasche war nichts mehr zu sehen.
    »Dieser Tee ist sehr gut.« Der Arzt reichte ihr eine Tasse.
    Bernina schlug die Decken zurück und erhob sich. Nach den ersten
Schlucken betrachtete sie Poppel eingehender. Die Farbe war wieder aus seiner
Nase gewichen, dafür schienen die Ränder um seine Augen noch roter geworden zu
sein.
    »Sie haben bestimmt keinen Moment geschlafen«, schimpfte Bernina.
»Ich habe doch recht, oder?«
    Er sah sie verschmitzt an, ertappt, fast wie ein Junge. »Ich werde
schlafen. Nachher, wenn alles erledigt ist, werde ich 100 Jahre lang
durchschlafen. Nun muss ich aber erst noch meine Instrumente reinigen. Dafür
kocht schon das Wasser in der Küche.«
    »Erledigt? Was?«
    »Sie wollten mir helfen?«
    Augenblicklich war Bernina ganz aufmerksam, der Schlaf war
endgültig abgeschüttelt. »Das wissen Sie genau.«
    »Wie ich es einschätze, können Sie mir weniger zur Hand gehen, als
anfangs vermutet. Aber ich dachte, Sie würden es mir nie verzeihen, wenn ich
Sie nicht mitnehme.«
    Sie stellte die Tasse auf dem Tisch ab. »Ich bin bereit.«
    Kurz darauf betraten sie den Raum, den sie bereits vom Vortag
kannten. Die hellblaue Flagge hing nicht mehr vor dem Fenster, sondern lag
zusammengefaltet auf dem Fensterbrett. So drang auch hier etwas von dem
flirrenden Tageslicht hinein, das offenbar die Regenwolken der Nacht aufgelöst
hatte.
    Dieselben Männer wie am Abend zuvor. Sie hatten sich im Halbkreis
um das Bett gruppiert, neben dem bereits Poppels Tasche stand.
    Oberst Jakob von Falkenberg war wach. So klar wie schon einmal
durchzuckten seine Blicke das Zimmer, ohne dass ihn wieder eine Ohnmacht
überfiel.
    »Seht her, wer uns da erneut die Ehre gibt:
der beste Knochenschneider der Welt.« Er grinste, fast schon so überheblich wie
vor der Schlacht. »Und wen hat er mitgebracht? Einen wahrhaftigen Engel. Da
stirbt man fast schon freiwillig, was, meine Herren?«
    Keiner der Offiziere reagierte, dafür antwortete Poppel nach einer
kurz angedeuteten, gewohnheitsmäßigen Verbeugung: »Freut mich, dass Sie wohlauf
sind, Herr Oberst. Ich hoffe, es liegt in meiner Macht, diesen guten Zustand zu
verlängern.«
    »Das hoffe ich auch, Poppel. Ihre geschätzten Berufsgenossen haben
mich ja längst aufgegeben.«
    Das Kissen war hinter Falkenbergs Rücken geschoben worden, sodass
er einigermaßen aufrecht sitzen konnte. Sein Oberkörper war nach wie vor nackt.
Und von dieser geisterhaften Blässe, ebenso sein Gesicht, das trotz der wachen
Augen Erschöpfung offenbarte.
    »Das Fieber ist nicht zurückgegangen, nehme ich an?«, fragte
Poppel und schob sich zwischen die Offiziere.
    »Nein«, entgegnete Falkenberg. »Aber die Hitze in meinem Schädel
zeigt, dass ich wenigstens noch am Leben bin.«
    Im Schoß des Obersts ruhte ein flaches, abgewetztes Lederetui, aus
dessen seitlicher Öffnung sich Papiere auf die Bettdecke schoben. Einen Brief
hielt Falkenberg in seiner rechten Hand, während die linke wie am Vorabend
unter der Decke verborgen war.
    Bernina stand etwas abseits der Männergruppe, nahe der Tür. Ihr
Blick lag auf Falkenberg, der sie nach wie vor nicht direkt ansprach, dessen
Augen sich aber immer wieder auf sie richteten. Er legte den Brief ab, um ihn
mit einer Hand zusammenzufalten, damit er die verletzte ruhig halten konnte.
Als er das Blatt ins Etui schob, wirkten seine Züge ganz kurz ein wenig zornig.
    Nun war es der Arzt, der das Etui ergriff, um es auf dem kleinen,
neben dem Bett stehenden Tisch abzulegen.
    »Wenn die Herren uns entschuldigen würden«, sagte er, betont
höflich und respektvoll.
    »Wir bleiben hier«, antwortete sofort einer
der Offiziere, ziemlich barsch, und machte damit klar, wie wenig er von Poppel
hielt. »Um zu sehen, was Sie mit dem Oberst anstellen. Und denken Sie daran,
dass wir jede einzelne Ihrer Bewegungen genau …«
    »Meine Herren!«, zerschnitt Falkenbergs Stimme wie ein Säbelhieb
die Worte. »Raus mit Ihnen! Nur der verehrte Knochenschneider und sein
reizender Engel bleiben hier.«
    Die Offiziere verständigten sich mit Blicken und drückten noch
einmal ihr Missfallen aus, verschwanden aber einer nach dem anderen durch die
schmale, niedrige Tür nach draußen.
    »Gut so«, lobte der Oberst und büßte gleich ein wenig seiner
straffen Haltung ein. Er sank ins Kissen

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