Das Geheimnis der Krähentochter
Verletzung.«
Bernina sah ihn an. »Aber sagten Sie nicht, dass seine Hand Ihnen
kaum Sorgen bereitet?«
»Sie haben mich missverstanden. Es ist nur so, dass mir diese
Wunde weniger Sorgen macht, was Falkenbergs Überleben betrifft. Eine
Kleinigkeit ist es aber gewiss nicht.« Er stand auf, streckte sich. »Kurz
durchschnaufen, dann geht es wieder los, meine Liebe.«
Aus seiner Tasche zog er einen ledernen
Trinkbeutel und nahm ein paar tiefe Schlucke. Bernina konnte sofort den Geruch
des Weines wahrnehmen, der sich darin befand. Ihr Blick legte sich auf
Falkenbergs Gesicht. Er atmete ruhig. Behutsam wischte sie ihm mit einem Lappen
den Schweiß von Stirn und Wangen.
»Hoffentlich steht er es durch«, meinte Poppel, bevor er sich
wieder an dem Trinkbeutel bediente.
Bernina legte unterdessen den Lappen auf den kleinen Tisch. Dabei
fiel ihr das Lederetui auf, aus dem ein Stück des zuletzt gelesenen Briefs zu
sehen war. Und auf dieser Briefecke wiederum entdeckte sie eine Abbildung, eine
Art Wappen.
Die Abbildung löste eine ähnliche Starre in
ihr aus wie zuvor Poppels Kampf mit der Kugel. Sie fühlte ihren Herzschlag und
das Blut, das durch ihren Leib strömte. Plötzlich waren die Schleier der Zeit
wieder ganz nah bei ihr, schwebten um sie herum, kreisten sie ein. Allein durch
diese Abbildung. Schwert und Blume. Genau so ein Schwert über der Blume, die
sie in dem geheimnisvollen Zimmer im Petersthal-Hof gesehen hatte – und
später in die Wand jener Hütte geritzt, die der Krähenfrau gehörte.
Mit einem kurzen Seitenblick stellte sie fest, dass Poppel wieder
auf dem Hocker neben dem Bett Platz nahm.
Und ebenso wie damals, auf dem verwüsteten Hof, war da dieser
Impuls in Bernina: So wie damals, als sie ohne nachzudenken die Zeichnung mit
dem kleinen Mädchen ergriff, zog sie jetzt den Brief aus dem Etui, ganz
schnell, ihren Rücken dem Arzt zugewandt, der zur Lockerung mehrmals seine
Finger miteinander verknotete und sie wieder spreizte.
Sie ließ den Brief in ihrem Kleid verschwinden und drehte sich
wieder zum Bett hin. Poppel fuhr sich über die Augen. Er roch nach Wein und
nach Schweiß, und er schnaufte tief. Nun streifte er Falkenbergs Zudecke noch
weiter herunter. Dessen linke Hand war von einem Verband verborgen, der so oft
um sie herum geschlungen worden war, dass er eine große unförmige Kugel
bildete.
»Also dann«, sagte der Arzt, wobei er eine der kürzeren seiner
Knochensägen aus der Tasche hervorholte.
»Die Säge«, sagte Bernina erstaunt. »Wollen Sie etwa …«
Poppels Nicken ließ sie verstummen. »Die Hand hat es voll
erwischt«, meinte er lapidar. »Ich habe sie mir heute Morgen angesehen. Als
hätte man sie mit einem Felsblock zerschmettert. Ich muss sie entfernen.«
»Entfernen?«
»Ja, natürlich. Amputieren.« Er begann, den Verband von der Hand
zu wickeln. »Halten Sie ihn fest. Und beten Sie für ihn, dass er bewusstlos
bleibt. Und dafür, dass er all das, was ich ihm antun muss, irgendwie
überlebt.«
Berninas Hände legten sich wie zuvor auf die Arme Jakob von
Falkenbergs. Sie starrte auf seine geschlossenen Lider. Seine Haut war noch
immer eiskalt und kochend heiß zugleich.
*
Rot und braun und ocker. Dazwischen noch die Reste jenes frischen
Grüns, das bald verblassen würde. Die immer wieder einsetzenden Regengüsse der
letzten Tage und die bissigen Windböen hatten die Blätter innerhalb kürzester
Zeit herbstlich gefärbt. Der Wald schimmerte nass, roch nass, triefte vor
Nässe, der auch diese angenehmen spätmorgendlichen Sonnenstunden nicht viel
anhaben konnten. Bei jedem Schritt rutschte Bernina ein wenig auf dem bereits
gefallenen Laub, doch geschickt verhinderte sie stets ein Stolpern.
Sie raffte die schwere Jacke, deren Ärmel ihr zu lang und die
Schulterpartien zu weit waren, vor ihrer Brust. Das sichtlich abgewetzte Stück
aus grobem Wollstoff gehörte eigentlich Melchert Poppel, aber da sie kein
wärmendes Kleidungsstück besaß, hatte er Bernina die Männerjacke überlassen.
Nun brauchte sie vor allem noch festere Schuhe.
Zwei Nächte hatte sie jetzt schon in dem einsamen Haus bei
Kraubach verbracht. Sie hatte fast zehn Stunden ohne Unterbrechung geschlafen
und danach gemeinsam mit dem Arzt ein Frühstück eingenommen, das reichhaltiger
gewesen war als alles, was sie in den letzten Wochen zu essen bekommen hatte.
Nun durchstreifte sie, wie schon am frühen Abend des Vortages, den Wald, der
Kraubach umschloss.
Einer der Wachsoldaten hatte
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