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Das Geheimnis der Krähentochter

Das Geheimnis der Krähentochter

Titel: Das Geheimnis der Krähentochter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Oliver Becker
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sie vor Wildschweinen und Wölfen
gewarnt, doch Bernina ließ sich nicht aufhalten. Es tat ihr gut, allein zu
sein, das Aroma des Waldes zu riechen, keine Stimmen zu hören, nur das beinahe
musikalische Rauschen des Windes, der durch die Bäume strich und dabei Äste und
Zweige singen ließ.
    Leise summte sie die Melodie, mit der die Gaukler immer Einzug in
die Ortschaften gehalten hatten – auch eine Zeit, die wohl für immer
verloren war. Nur Anselmo wollte und würde sie nicht aufgeben. Ihn
wiederzufinden, das war es, was sie antrieb, was sie beherrschte.
    Das wusste auch Melchert Poppel, aber vorerst konnte der Arzt ihr
nicht weiterhelfen. Seitdem er am Tag davor müde, am Ende seiner Kräfte, aus
dem Zimmer des Obersts gegangen war, hatte er fast nur geschlafen. Auch nach
dem ausgiebigen Frühstück mit Bernina hatte er sich in der kleinen Kammer
wieder in die Decken gerollt. Sein Schnarchen war im ganzen Gebäude zu hören.
    Bernina setzte den Weg fort, den sie am Vorabend erkundet hatte.
Er führte zu einer Lichtung, wo sie auf bestimmte Kräuter gestoßen war, nach
denen sie Ausschau gehalten hatte. Sie ließ die Melodie auf ihren Lippen
verklingen – die Erinnerung an die schöne Zeit mit Anselmo war nicht nur
beglückend, sondern auch schmerzlich. Und stellte doch das Einzige dar, an dem
sie sich festhalten konnte.
    »Wo bist du, Anselmo?«, fragte sie halblaut. »Wo bist du in genau
diesem Augenblick? Was sehen deine Augen? Riechst du auch einen nassen, kühlen
Wald? Bist du gesund? Oder verletzt? Bist du überhaupt noch … am Leben?«
Sie erreichte die Lichtung mit den schön geformten Blüten, die versuchten, dem
Ende des Sommers zu trotzen und von denen sie bereits viele gesammelt hatte.
Etwas mehr würde gewiss nicht schaden. Bernina erinnerte sich nicht ganz genau,
wie die Krähenfrau mit eben diesen Blüten verfahren war, aber sie würde sich
gewiss zu helfen wissen.
    Sie nahm sich anschließend Zeit und ließ sich auf einem quer
liegenden Baumstamm nieder, den irgendwann einmal ein Blitz vom Stumpf getrennt
hatte. Die Sonne schickte ein paar wärmende Strahlen zu ihr herab, und sie
atmete wohlig durch. Der nächste Regen würde nicht lange auf sich warten
lassen.
    Wieder einmal plagte sie das schlechte Gewissen, dessen Anlass sie
nun aus ihrem Kleid hervorzog – der Brief, auf den Schwert und Blume
gemalt worden waren und der sich im Besitz Oberst Jakob von Falkenbergs
befunden hatte.
    Sie starrte auf das Papier, auf die geschriebenen Worte. So wie
sie einst in dem rätselhaften Zimmer des Petersthal-Hofes auf die zerstreut
herumliegenden Bücher geblickt hatte, irgendwie hilflos, beeindruckt. Der
Schwung der Schrift strahlte etwas Vornehmes, etwas Ästhetisches aus. Zum
ersten Mal in ihrem Leben fand sie es beschämend, nicht lesen zu können. Sie
fühlte sich dumm und ungebildet, und sie empfand es als ungerecht, dass ihr
niemals die Gelegenheit gegeben worden war, die Kunst der Buchstaben zu
erlernen.
    Die letzten Monate, zuerst die Zeit bei den Gauklern, dann die
Zeit mit Melchert Poppel, hatten Bernina gezeigt, dass sie sehr wohl in der
Lage war, Dinge zu verstehen und zu beherrschen, Neues für sich zu entdecken.
Auch bei den täglichen Arbeiten auf dem Hof hatte sie sich in all den Jahren
niemals ungeschickt angestellt. Und ich könnte, sagte sie sich, noch vieles
mehr lernen.
    Sie hatte schon darüber nachgedacht, in einem ruhigen Moment den
Feldarzt zu fragen, ob er ihr das Schriftstück vorlesen könnte. Ein Gedanke,
den sie rasch wieder verworfen hatte. Der Brief war immerhin gestohlen, er ging
sie nicht das Geringste an, sie hätte sich unwohl gefühlt, ihn Poppel zu
präsentieren, der so gut von ihr dachte. Sie hätte das Schreiben einfach
niemals an sich nehmen dürfen.
    Aber die Anziehungskraft von Schwert und Blume war zu groß, zu
verführerisch gewesen. Was mochten die Worte bedeuten, die unter diesen Zeichen
Zeile um Zeile füllten? Wer mochte sie geschrieben haben?
    Und weshalb hatte Jakob von Falkenberg den Brief zornig weggelegt?
    Der Oberst. Da waren ihre Gedanken also wieder bei ihm, wie
bereits so oft, seit Bernina ihm zum ersten Mal in dem Haus in Ippenheim
gegenübergetreten war.
    »Nun scheint Falkenberg dem Tod noch einmal von der Schippe
gesprungen zu sein«, hatte Melchert Poppel gesagt, am Vorabend, bevor sie sich
für die Nachtruhe bereitmachten. Der Oberst schlief friedlich, das Fieber war
zurückgegangen, die beiden Verletzungen sahen laut Poppel

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