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Das Geheimnis der Lady Audley - ein viktorianischer Krimi

Das Geheimnis der Lady Audley - ein viktorianischer Krimi

Titel: Das Geheimnis der Lady Audley - ein viktorianischer Krimi Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dryas Verlag
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erklärt, das Mädchen könne kaum mehr als vierzehn Tage ­weiterleben. Und es war in drei Wochen, dass das Schiff mit George Talboys an Bord voraussichtlich eintreffen würde. – Ich besuchte das kranke Mädchen. Man stellte mich ihr als reiche Dame vor, die ihr einen Dienst zu ­erweisen wünschte. Ich kaufte die Mutter, die arm, gierig und für ein Geldgeschenk dankbar war. Sie erhielt mehr Geld, als sie je zuvor besessen hatte. Sie war bereit, sich in alles zu fügen, was ich nur wollte. Mein Vater fuhr nach Ventnor und mietete eine Unterkunft für das Mädchen und das Kind. Früh am nächsten Morgen brachte er dann die ­Sterbende und Georgey hinüber, den man übrigens gemahnt hatte, sie „Mama“ zu nennen. Das Mädchen betrat dort das Haus als Mrs Talboys und wurde auch als Mrs Talboys von einem Arzt in Ventnor behandelt.“
    Ein weiteres Zittern ging durch Lady Audleys Körper, doch ihre Stimme wankte nicht, als sie weitersprach.
    „Aber dieses dumme Ding wollte nicht sterben und die Zeit drängte. Täglich fragte ich nach ihrem Zustand, doch immer musste mein Vater melden, dass sie noch lebe. Ich reiste nach Ventnor und hielt Wache an ihrem Bett. Ja, ich begann sogar an eben diesem Ort für ihren Tod zu beten. Dennoch, sie wollte die Grenze nicht überschreiten. Da erlöste ich sie, als es nicht mehr anders ging, mit einem Kissen.“
    Sir Michael starrte seine Frau an.
    „Sie starb, und ihr Tod und das Begräbnis wurden unter dem Namen Helen Talboys im Register eingetragen. Die Anzeige erschien gerade noch rechtzeitig in der Times. Und am zweiten Tag nach deren Erscheinen besuchte George Talboys, wie von mir geplant, Ventnor, wo er einen Grabstein für seine tote Frau bestellte.“
    Schwerfällig erhob sich Sir Michael Audley aus dem Sessel. Jedes körperliche Empfinden schien durch sein ­seelisches Elend wie betäubt. „Ich kann und will nichts mehr hören“, flüsterte er heiser. „Robert, wenn ich recht verstehe, warst du es, der diese Entdeckung herbeigeführt hat. Wirst du wohl die Aufgabe übernehmen, für das Wohlergehen dieser Dame zu sorgen, die ich für meine Frau gehalten habe? Ich kann ihr nicht Lebewohl sagen.“
    Schlurfend verließ Sir Michael den Raum. Er blickte nicht zu der kauernden Gestalt hinüber, sondern ging geradewegs in sein Ankleidezimmer hinauf, klingelte nach seinem Diener und befahl diesem, einen Reisesack zu packen und alle notwenigen Vorbereitungen zu ­treffen, um ihn im letzten Zug nach London begleiten zu können.

4. Kapitel

    R obert Audley folgte seinem Onkel in die Halle hinaus. Der Himmel weiß, wie sehr sich der junge Mann vor diesem Tag gefürchtet hatte. Und obwohl es keinen großen Verzweiflungsausbruch, keinen heftigen Aufruhr der Gefühle, kein lautes ungestümes Wehklagen und keine Tränen gegeben hatte, konnte Robert in ­dieser unnatürlichen Ruhe doch keinen Trost finden. Er ­wusste, dass diese seltsame und eisige Ruhe nur das erste Betäubtsein eines Herzens war. Der Schmerz war so plötzlich und unerwartet gekommen, dass er unbegreiflich schien. Und Robert wusste, dass in dem Moment, in dem diese dumpfe Ruhe vorüber war, ein Sturm mit verhängnisvoller Heftigkeit losbrechen würde und Tränen und grausame Donnerschläge das edle Herz zerreißen ­konnten.
    Robert überlegte, wie er das Leiden seines Onkels lindern könne, doch er wusste, dass mit bitterem ­Kummer auch ein Gefühl der Demütigung einhergeht. Es war ­besser, Sir Michael den Kampf allein aufnehmen zu lassen. Und während der junge Mann dort zweifelnd stand, die Hand auf der Bibliothekstür, öffnete Alicia Audley die Tür des Esszimmers und trat in die Halle. „Oh, du bist es, Mr Robert Audley“, bemerkte sie. „Du isst ­natürlich mit uns. Bitte gehe und suche Papa. Es muss ­beinahe acht Uhr sein, und wir sollten eigentlich um sechs Uhr zu Abend essen.“
    „Dein Papa hat soeben einen sehr großen Schmerz ­erlitten, Alicia“, begann der junge Mann mit ernster Miene.
    „Einen Schmerz!“, rief sie. „Papa hat Kummer? – Oh, Robert, was ist geschehen?“
    „Ich kann dir noch nichts Näheres sagen, Alicia“, ­entgegnete Robert mit leiser Stimme. Während er sprach, ergriff er das Handgelenk seiner Cousine und zog sie in das Esszimmer. Er schloss die Tür sorgsam hinter sich, bevor er fortfuhr. „Alicia, kann ich mich auf dich ­verlassen?“, fragte er feierlich.
    Mit aufgerissenen Augen sah sie ihn an. „Was ist ­passiert?“
    „Du musst deinem Vater in seiner

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