Das Geheimnis der Lady Audley - ein viktorianischer Krimi
nicht zu, dass Fremde mit ihr sprechen.“ Er wusste nicht, ob sie fliehen oder sich ihrem Schicksal ergeben würde. Er würde in dieser Nacht dafür Sorge tragen, dass diese Person nicht ungesehen das Haus verlassen konnte.
Mylady erhob sich vom Boden, auf dem sie gekauert hatte. Ihr goldenes Haar umspielte den elfenbeinernen Hals und die Schultern. Ihr Gesicht und ihre Lippen waren farblos und ihre Augen in ihrem unnatürlichen Leuchten beinahe erschreckend.
„Mein Kopf brennt“, murmelte sie ihrer Zofe zu, die hilflos Robert Audley ansah. An der Tür wandte sich Lady Audley noch einmal zu Robert um. „Ist Sir Michael schon fort?“, fragte sie.
Robert antwortete ihr nicht, stattdessen bat er sie im Verlauf des morgigen Tages um eine halbstündige Unterredung. Sie nickte stumm. Auf die Schulter ihrer Zofe gestützt, ging sie davon und ließ Robert mit einem Gefühl seltsamer Verwirrung zurück.
Robert setzte sich vor die große Feuerstelle, in der die rot glimmende Kohle langsam verglühte, und sann über die Veränderung in dem alten Haus nach. Bis zu dem Tag, an dem sein Freund verschwand, was es stets ein gastliches Haus und ein freundliches Heim gewesen. Grübelnd saß er da und versuchte sich darüber klar zu werden, was in dieser Krise zu tun sei. Dann hörte er das Geräusch von Kutschenrädern, die zur Eingangstür rollten. Robert sprang auf. Die Uhr in der Halle schlug soeben neunmal, als Robert die Bibliothekstür öffnete.
Alicia war gerade mit ihrer Zofe die Treppe heruntergekommen. „Lebe wohl, Robert“, sagte Miss Audley und streckte ihrem Cousin die Hand entgegen. „Und Gott segne dich!“
„Ich vertraue darauf. Gott segne dich ebenso, meine Liebe.“ Zum zweiten Mal an diesem Abend drückte Robert Audley seine Lippen auf die Stirn seiner Cousine, und zum zweiten Mal war die Umarmung eher brüderlicher Natur als eine verzückte Liebkosung, die es gewesen wäre, hätte Sir Harry Towers der privilegierte Handelnde sein dürfen.
Es war fünf Minuten nach neun, als Sir Michael Audley die Treppe hinunterschritt. Ihm folgte sein Diener. Der Baron wirkte ruhig und gefasst. Die Hand, die er seinem Neffen jedoch reichte, war kalt wie Eis. Doch seine Stimme klang fest, als er dem jungen Mann Lebewohl wünschte.
„Ich überlasse alles deiner Entscheidung, Robert“, sagte er, während er Anstalten machte, das Haus zu verlassen, in dem er so lange gelebt hatte. „Ich habe genug gehört. Der Himmel verhüte, dass ich noch mehr von den Scheußlichkeiten dieser Person hören muss. Ich überlasse alles dir, Robert. Aber bitte denke daran, wie sehr ich sie ...“ Heiser brach seine Stimme ab, bevor er den Satz beenden konnte.
„Ich werde bei allem an Sie denken, Sir“, antwortete der junge Mann. „Und ich werde mit bester Absicht vorgehen.“ Ein verräterischer Tränenschleier trübte seinen Blick.
In der nächsten Minute war die Kutsche schon davongerollt.
Wieder saß Robert Audley allein in der dunklen Bibliothek, wo nur noch ein einziger roter Funke in der blassgrauen Asche glühte. Er musste nun entscheiden, was er angesichts der furchtbaren Verantwortung für das zukünftige Schicksal der verruchten Frau als Nächstes tun solle. Er konnte wählen zwischen dem Strang um ihren weißen Hals, weil sie mindestens einen Mord begangen hatte, oder dem Irrenhaus, sollte es stimmen, dass sie verrückt war, wie sie behauptete. Der Advokat Robert Audley hatte die entsetzliche, göttliche Macht, über das Leben oder Sterben dieser Frau zu entscheiden. Und diese Last wog unendlich schwer auf ihm.
Richards, der Diener, brachte Kerzen in die Bibliothek und zündete das Feuer wieder an. Robert Audley rührte sich nicht von seinem Platz vor dem Kamin. Er saß dort so, wie er auch oft in seinen Räumen im Fig Tree Court gesessen hatte – die Ellenbogen auf die Sessellehne und das Kinn auf die Hand gestützt. Er hob jedoch den Kopf, als der Diener die Bibliothek wieder verlassen wollte. „Kann ich von hier aus eine telegraphische Nachricht nach London schicken?“, fragte er.
„Einer der Männer kann nach Brentwood hinüberreiten, Sir, wenn Sie eine Nachricht schicken wollen.“
„Dann warten Sie, während ich die Nachricht schreibe, Richards.“
„Ja, Sir.“
Der Diener brachte die Schreibutensilien von einem der Seitentische und stellte sie vor Robert hin. Robert tauchte die Feder in die Tinte und starrte sekundenlang auf eine der Kerzen, ehe er zu schreiben begann. Die Nachricht lautete:
Weitere Kostenlose Bücher