Das Geheimnis der Lady Audley - ein viktorianischer Krimi
Ich war ihr gänzlich ausgeliefert, was sie für ihre Wut gegen meinen säumigen Vater reichlich ausnutzte. Wenn ich nachfragte, wo meine Mutter sei, erwiderte sie nur, dass das ein Geheimnis sei. Irgendwann erfuhr ich von der Frau, dass meine Mutter in einer Irrenanstalt lebte.“ Lady Audley blickte nicht einen Moment auf, sondern starrte auf den Boden vor sich. „Verrückt, wahnsinnig! – Und in ihrer Wut, dass mein Vater noch immer nicht ihre Dienste bezahlt hatte, sagte sie mir, dass diese Krankheit erblich sei und ich sicherlich auch wahnsinnig werde. Ich grübelte über die Vorstellung, meine Mutter könne geisteskrank sein, unaufhörlich nach. Dieser Gedanke verfolgte mich Tag und Nacht. Ich malte mir immer wieder diese Wahnsinnige aus, wie sie in einem abscheulichen Gewand, das ihre gemarterten Arme behinderte, in einer Art Gefängniszelle hin und her wanderte. Das Bild, das mich unentwegt peinigte, war das Bild einer zerrütteten und gewalttätigen Kreatur, die mich anfallen und umbringen würde, sobald ich in ihre Reichweite gelangte. Ich wachte mitten in der Nacht auf, voll Entsetzen, fing an zu schreien, weil ich glaubte, meiner Mutter eisigen Griff an meiner Kehle gespürt zu haben. Als ich zehn Jahre alt war, kam mein Vater endlich, um mich bei der Frau auszulösen und mich in eine Schule zu bringen.“
Mylady schwieg einen Moment, um Atem zu schöpfen, denn sie hatte sehr hastig geredet, so als liege ihr daran, diese verhasste Geschichte schnell hinter sich zu bringen. Noch immer lag sie auf den Knien, doch Sir Michael machte jetzt keine Anstalten mehr, ihr zu Hilfe zu eilen. Stumm und unbeweglich saß er in seinem Sessel.
„Bevor mein Vater mich zur Schule in Torquay schickte, nahm er mich zu einem Besuch bei meiner Mutter mit. Sie lebte nur wenige Meilen entfernt von dem Ort, wo ich jahrelang hauste. Dieser Besuch diente dem Zweck, die Befürchtungen zu zerstreuen, die mich so oft erschreckt hatten. Tatsächlich traf ich dort keine tobende Wahnsinnige in einer Zwangsjacke, die von Gefängniswärtern bewacht wurde, vor, sondern ein mädchenhaftes Wesen mit goldenen Haaren und blauen Augen, das flatterhaft wie ein Schmetterling zu sein schien und mit Blumen in den goldenen Locken auf uns zusprang und uns mit strahlendem Lächeln und heiterem, endlosen Geplapper begrüßte. Aber sie erkannte mich nicht. Auch nicht meinen Vater. In der gleichen Weise hätte sie jeden Fremden angesprochen, der durch die Tür trat. – Bis zur Stunde meiner Geburt war sie gesund gewesen, zumindest schien es so gewesen zu sein. Doch dann hatte sie immer mehr den Verstand verloren, bis sie so geworden war, wie ich sie erlebte. Mit diesem Wissen ging ich fort und auch mit der Erkenntnis, dass die einzige Erbschaft, die ich je von meiner Mutter zu erwarten hatte, ihr Wahnsinn war. – Als ich älter wurde, sagte man mir, wie hübsch ... schön ... reizend ... bezaubernd ich doch sei. Ich begann zu überlegen, dass ich trotz des Geheimnisses meiner Mutter im großen Glücksspiel des Lebens möglicherweise erfolgreicher sein könne als andere Mitschülerinnen. Ich begriff, dass mein Schicksal im Leben letztlich von meiner Heirat abhängen würde. Und sollte ich tatsächlich hübscher als andere sein, dann müsste ich eigentlich eine vorteilhaftere Ehe eingehen können als eine von ihnen. Mit dieser Überlegung im Kopf verließ ich die Schule, noch bevor ich siebzehn Jahre alt war. Mein Vater und ich zogen nach Wildernsea, wo ich länger als erwartet auf den Prinzen warten musste. Doch dann kam endlich der reiche Freier.“
Wieder schwieg sie einen Moment, und ein krampfartiges Zittern erfasste sie. Während ihres Geständnisses richtete sie ihr Gesicht niemals auf, und ihre Stimme wurde auch nicht von Tränen unterbrochen. Was sie zu sagen hatte, erzählte sie mit klarer Stimme.
„George Talboys war Kornett in einem Dragoner Regiment und der einzige Sohn eines wohlhabenden Landedelmannes. Er verliebte sich in mich und wir heirateten. Ich würde sagen, ich liebte ihn in dem Maße, in dem ich überhaupt jemanden zu lieben vermag“, fuhr Mylady fort. „Ich liebte ihn durchaus, solange sein Geld reichte und wir uns auf dem Kontinent aufhielten, in nobelster Weise umherreisten und immer in den besten Hotels abstiegen. Aber als wir nach Wildernsea zurückkehrten, bei Papa wohnten und das Geld ausgegeben war, wurde ich sehr unglücklich. Es kam mir vor, als habe mir diese großartige Heirat
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