Das Geheimnis der Lady Audley - ein viktorianischer Krimi
Mutter. Von ihm und seiner Frau erfuhr ich, wer das Castle Inn mitten in der Nacht aufgesucht hatte. Die Wirtin war wie von Sinnen, als sie mich sah und mir von ihrem Verdacht berichtete. – Ich habe geschworen, den Mörder von George Talboys vor Gericht zu bringen, und ich werde meinen Schwur halten. Ich behaupte, dass mein Freund durch Ihr Zutun seinen Tod gefunden hat. Von nun an betrachte ich Sie als die teuflische Verkörperung eines bösen Prinzips. Sie werden dieses Haus nicht länger durch Ihre Gegenwart beflecken. Wenn Sie nicht im Beisein des Mannes, den Sie so lange getäuscht haben, gestehen, was und wer Sie sind, werde ich Zeugen versammeln, die Ihre Identität beschwören können. Und ich werde Sie der Strafe für Ihr Verbrechen zuführen!“
Plötzlich erhob sich die Frau. Mit zurückgeworfenem Haar und funkelnden Augen stand sie vor ihm. „Sie haben gewonnen, Mr Robert Audley! Ein großartiger Triumph, nicht wahr? Ein wunderbarer Sieg! Sie haben Ihren kühlen, berechnenden und klaren Verstand für einen edlen Zweck eingesetzt. Sie haben ... eine Wahnsinnige besiegt!“
„Eine Wahnsinnige!“, rief Mr Audley.
„Ja, eine Wahnsinnige!“ Sie lachte schrill. „Wenn Sie sagen, dass ich George Talboys tötete, dann sagen Sie damit die Wahrheit. Wenn Sie aber behaupten, dass ich ihn auf hinterhältige und gemeine Weise ermordete, dann lügen Sie. Ich brachte ihn um, weil ich wahnsinnig bin, weil sich mein Verstand ein kleines Stück auf der falschen Seite jener schmalen Grenzlinie zwischen Gesundheit und Irrsinn befindet. In dem Moment, als George Talboys mich bedrängte und mir Vorwürfe machte, mich bedrohte, da geriet mein Verstand, der nie ganz ausgeglichen war, vollends aus dem Gleichgewicht – ich war nur wahnsinnig! – Holen Sie Sir Michael!“
Verwirrt verließ Robert Audley den Raum, um seinen Onkel zu holen. Er traf Sir Michael in der Halle. Robert war sich bewusst, dass er im Begriff stand, das Luftschloss im Leben seines Onkels zu zerstören. Dennoch unternahm er keinen Versuch, den Mann auf das Kommende vorzubereiten. Was hätte er zur Linderung des Schmerzes auch sagen sollen?
„Lady Audley hat Ihnen ein Geständnis zu machen, Sir. Ein Geständnis, das, wie ich befürchte, eine höchst grausame Überraschung für Sie sein und Ihnen bittersten Kummer bereiten wird. Aber für Ihre Ehre und Ihren zukünftigen Seelenfrieden ist es notwendig, dass Sie es hören. – Möge Gott diesen Schicksalsschlag für Sie mildern. Ich kann es nicht!“
Fragend blickte Sir Michael seinen Neffen an, der betreten zu Boden schaute. Doch dann rannte er an Robert vorbei in die Bibliothek. „Lucy!“, rief er. Seine Stimme klang wie der Schrei eines verwundeten Tieres, von Schmerz erfüllt. Er stieß die Tür auf. „Lucy, sagen Sie mir, dass dieser Mann ein Verrückter ist. Sagen Sie es mir, meine Liebe!“ In seiner Stimme schwang unendliche Wut mit.
Mylady aber fiel vor seinen Füßen auf die Knie. „Ich habe nach Ihnen geschickt, damit ich Ihnen etwas gestehen kann“, schluchzte sie. „Ich sollte Sie eigentlich bedauern, wenn ich es könnte, denn Sie sind sehr, sehr gut zu mir gewesen. Sehr viel besser, als ich es verdiene. Aber ich kann es nicht, ich kann es nicht ... Ich fühle nichts außer meinem eigenen Elend. – Ich habe Ihnen vor langer Zeit gestanden, dass ich stets selbstsüchtig war. Ich bin es immer noch ... und in meiner Not mehr als je zuvor. Glückliche Menschen können Mitgefühl mit anderen haben. Ich aber lache über die Leiden anderer. Sie kommen mir im Vergleich zu den meinen so unbedeutend vor.“
Im ersten Moment, als Mylady auf die Knie gesunken war, hatte Sir Michael noch versucht, sie aufzurichten und Protest zu erheben. Doch während sie so sprach, ließ er sich in einen Sessel fallen und schwieg. Es schien, als habe sich sein ganzes Dasein in diesem Zuhören aufgelöst.
„Ich muss Ihnen die ganze Geschichte meines Lebens erzählen, um verständlich machen zu können, warum ich dieses elende Wesen geworden bin. – Ich entsinne mich, dass ich als Kind eine Frage stellte, die zu stellen nur zu natürlich war, Gott sei mir gnädig. Ich fragte, wo meine Mutter sei. Sie hatte uns früh verlassen, als ich kaum älter als ein Baby gewesen war. Ich war zu jener Zeit nicht glücklich, denn die Frau, die für mich sorgte, war schlecht zu mir. Mein Vater war bei der Marine und kam nur hin und wieder, um mich zu besuchen. Er bezahlte die Frau nur unregelmäßig.
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