Das Geheimnis der Lady Audley - ein viktorianischer Krimi
„Von Robert Audley, Audley Court, Essex, an Francis Wilmington, Paper Buildings, Temple. – Lieber Wilmington, wenn Sie einen Arzt kennen, der Erfahrung im Umgang mit Fällen von Wahnsinn hat und dem ein Geheimnis anvertraut werden kann, dann seien Sie so gütig, mir seine Adresse auf telegraphischem Wege zukommen zu lassen.“
Robert versiegelte die Nachricht in einem festen Umschlag und reichte diesen dem Mann zusammen mit einem Sovereign. „Achten Sie darauf, dass das einer vertrauenswürdigen Person übergeben wird, Richards“, bemerkte er. „Und der Mann soll an der Station auf die Antwort warten. Er müsste sie nach etwa anderthalb Stunden erhalten.“
Während Robert auf die Antwort wartete, lauschte er auf das leise Wehklagen des Märzwindes. Während er so da saß, dachte er an Clara Talboys. Er musste sie vom Tod ihres Bruders unterrichten. Robert seufzte schwer. Ob sie bereits von dem Feuer im Castle Inn gehört hatte? Ob sie wohl auch gehört hatte, dass Robert in Gefahr gewesen war und sich durch die Rettung dieses betrunkenen Kerls ausgezeichnet hatte? Oder nahm sie an, Robert sei bereits tot? Seine Eitelkeit verfluchend, schob er den Gedanken fort. Er war zu müde und erschöpft, um klar denken zu können. Und so sank er in seinem Lehnstuhl in einen bleiernen Schlaf, aus dem er erst durch das Eintreten des Dieners, der die telegraphische Antwort brachte, aufgeschreckt wurde.
Die Antwort war sehr kurz: „Lieber Audley, immer froh, gefällig zu sein. Alwyn Mosgrave, M. D., Saville Row Nr. 12. Vertrauenswürdig.“
5. Kapitel
D as Spiel war gespielt und verloren. Mylady hatte Robert Audley gefürchtet, doch nun fürchtete sie ihn nicht mehr. Er hatte das Ärgste getan, das er zu tun vermochte, und sie wusste, dass er nicht mehr tun konnte, ohne gleichzeitig den von ihm so sehr verehrten Namen ewiger Schande preiszugeben.
Ich nehme an, sie werden mich irgendwo einsperren, überlegte sie. Das ist das Äußerste, das sie mit mir machen können. Sie nehmen an, ich sei wahnsinnig. Sie lächelte. Während der letzten Tage hatte sie hundert Leben durchlebt und dabei ihre Leidensfähigkeit erschöpft.
Mr Robert Audley frühstückte in der Bibliothek. Lange verweilte er bei seiner Tasse Tee, rauchte eine Meerschaumpfeife und grübelte über die Aufgabe nach, die vor ihm lag. Er hatte besagten Doktor Mosgrave aus London nach Audley Court gebeten, um von ihm mehr über den Wahnsinn von Mylady zu erfahren, so es ihn gäbe. Er brauchte eine fachliche Meinung, denn in seinem eigenen Kopf schwirrten die Gedanken ungreifbar umher.
Der erste Eilzug von London kam um halb elf in Audley an. Um fünf vor elf meldete Richards Dr Alwyn Mosgrave.
Der Arzt aus der Saville Row war ein hochgewachsener Mann von etwa fünfzig Jahren. Er war hager und hatte ein fahles Gesicht mit hohlen Wangen und hellen grauen Augen, die so aussahen, als seien sie einmal blau gewesen und im Lauf der Zeit zu dem gegenwärtigen neutralen Farbton verblasst. Wie bedeutsam die von Dr Mosgrave vertretene Wissenschaft der Medizin auch sein mochte, so war sie doch nicht mächtig genug gewesen, um seine Gestalt fülliger oder sein Gesicht heiterer werden zu lassen. Er hatte das Gesicht eines Mannes, der seine eigenen Gefühle gleich am Anfang seiner Laufbahn aufgegeben hatte, um anderen Menschen zuzuhören.
Er verneigte sich vor Robert Audley, nahm in dem angebotenen gegenüberstehenden Sessel Platz und wandte sein wachsames Gesicht dem jungen Advokaten zu. Robert bemerkte, dass der Blick des Arztes für einen Moment seinen gelassenen Ausdruck verlor und ernst und forschend wurde. Er fragt sich, ob ich der Patient bin, dachte Mr Audley, und sucht in meinem Gesicht nach Symptomen einer Krankheit.
Gleichsam als Antwort auf diese Überlegung begann Dr Mosgrave: „Es handelt sich nicht um Ihre eigene ... Gesundheit ... wegen der Sie mich zu konsultieren wünschen?“, fragte er.
„Oh, nein.“
Dr Mosgrave sah auf seine Uhr, eine fünfzig Guineas teure, von Benson gefertigte Uhr, die er lose und so sorglos in seiner Westentasche aufbewahrte, als sei sie nichts anderes als eine Kartoffel. „Ich muss Sie wohl nicht daran erinnern, dass meine Zeit kostbar ist“, fuhr er fort. „Ihre telegraphische Nachricht setzte mich davon in Kenntnis, dass meine Dienste in einem ... gefährlichen ... Fall benötigt würden. So habe ich es zumindest verstanden, sonst wäre ich heute Morgen nicht hier.“
Robert Audley schluckte und
Weitere Kostenlose Bücher