Das Geheimnis der Lady Audley - ein viktorianischer Krimi
überlegte, wie er das Gespräch beginnen solle. „Sie sind zu gütig, Dr Mosgrave“, entgegnete er, sich mit Mühe zusammennehmend, „und ich danke Ihnen sehr, dass Sie meiner Bitte Folge geleistet haben. Ich wende mich in einer Angelegenheit an Sie, die schmerzlicher ist, als es Worte auszudrücken vermögen. Ich erbitte Ihren Rat in einem äußerst schwierigen Fall und verlasse mich blind auf Ihre Erfahrung, die mich und andere, die mir sehr teuer sind, aus einer schrecklichen und komplizierten Lage erretten soll.“
Robert blickte neuerlich ins Feuer. Wie viel oder wie wenig sollte er von der verbrecherischen Geschichte der zweiten Frau seines Onkels offenlegen? „Man hat mir zu verstehen gegeben, Dr Mosgrave, dass Sie Ihr besonderes Augenmerk auf die Behandlung von Formen des Wahnsinns gerichtet haben.“
„Ja, meine Praxis ist fast gänzlich auf die Behandlung von Geisteskrankheiten ausgerichtet.“
„In diesem Fall, denke ich, kann ich die Schlussfolgerung wagen, dass Sie manchmal seltsame und sogar furchtbare Geständnisse zu hören bekommen.“ Dr Mosgrave nickte. Robert überlegte, dann vertraute er ihm die Tragödie des Hauses an. Als er am Ende seiner Schilderung angelangt war, schüttelte Dr Mosgrave bedenklich den Kopf.
„Sie haben mir nichts weiter mitzuteilen?“, fragte der Arzt.
„Nein, ich glaube nicht, dass es noch etwas gibt, das gesagt werden müsste“, antwortete Robert ausweichend.
„Sie möchten beweisen, dass diese Dame geisteskrank und daher für ihre Handlungen nicht verantwortlich ist, Mr Audley“, stellte der Arzt fest. „Sie möchten sie vor den Gerichten schützen.“
Robert starrte den Doktor an. „Ja“, sagte er zögerlich. „Wenn möglich, wäre es mir lieber, sie für geisteskrank zu halten. Ich wäre froh, könnte diese Entschuldigung für sie vorgebracht werden.“
„Und der Skandal eines Prozesses vor dem Kanzleigericht könnte so vermieden werden, vermute ich, Mr Audley“, setzte Dr Mosgrave fort.
Robert schauderte, während er bejahend nickte. Es war jedoch etwas Schlimmeres als ein Prozess vor dem Kanzleigericht, das er mit schrecklicher Angst fürchtete. Es war ein Mordprozess, der ihn so lange schon in seinen Träumen verfolgte. Ein Prozess, in dem Sir Michael aussagen müsste, Alicia ebenso wie Mr Dawson und andere, deren Leben völlig durcheinandergeraten würde. Der Schmerz würde lange anhalten, vielleicht für die eine oder andere Seele zu lange. Robert fürchtete um das Leben seines Onkels.
„Ich bezweifle, dass ich Ihnen von Nutzen sein kann, Mr Audley“, sagte der Arzt ruhig. „Wenn Sie jedoch wünschen, werde ich die Dame aufsuchen, aber ich glaube nicht, dass sie geisteskrank ist.“
„Warum glauben Sie das?“
„Weil es bei dem, was sie getan hat, keinerlei Hinweise auf Wahnsinn gibt. Sie lief von zu Hause fort, weil ihr Heim kein angenehmes war, sie wollte ein besseres Heim. Darin zeigt sich kein Wahnsinn. Sie beging das Verbrechen der Bigamie, weil sie durch diese kriminelle Handlung zu Reichtum und einer Stellung in der Gesellschaft kam. Auch darin zeigt sich kein Wahnsinn. Als sie sich in einer verzweifelten Lage befand, verlor sie nicht den Kopf. Sie bediente sich intelligent gewählter Mittel und schmiedete ein Komplott, das in seiner Durchführung Kaltblütigkeit und Überlegung erforderte. Das zeugt nicht von Wahnsinn.“
„Aber die Anlage zu einer Geisteskrankheit ...“
„Sie log zuvor. Vielleicht hier ebenso. Sie hofft, dass diese Lüge sie vor dem Galgen bewahren könnte, Mr Audley. Ich glaube jedoch nicht, dass Geschworene in England in einem Fall wie diesem den Milderungsgrund des Wahnsinns gelten lassen würden. Das Beste, was Sie mit der Dame machen können, besteht wohl darin, sie zu ihrem ersten Ehemann zurückzuschicken, wenn dieser sie wieder aufnehmen will. Er soll über ihr Schicksal richten.“
Bei dieser plötzlichen Erwähnung seines Freundes fuhr Robert zusammen. „Ihr erster Mann ist tot ...“, erwiderte er. „Er wird zumindest seit einiger Zeit vermisst ... und ich habe Grund zu der Annahme, dass er tot ist.“
Dr Mosgrave bemerkte Robert Audleys Bestürzung und hörte die Verlegenheit in seiner Stimme, als er von George Talboys sprach. „Der erste Ehemann der Dame wird also vermisst“, wiederholte er mit einer merkwürdigen Betonung auf dem letzten Wort. „Was ist aus ihm geworden?“ Er stellte diese Frage mit Nachdruck, so als wüsste er, dass sie der springende Punkt der
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