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Das Geheimnis der Lady Audley - ein viktorianischer Krimi

Das Geheimnis der Lady Audley - ein viktorianischer Krimi

Titel: Das Geheimnis der Lady Audley - ein viktorianischer Krimi Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dryas Verlag
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Audley folglich die Gelegenheit, Mr Talboys kennenzulernen, und Mr Talboys entgeht die Chance, der hübschesten Frau in Essex zu begegnen.“
    „Selbst die schönste Frau in Essex hätte nur eine äußerst geringe Chance, meinem Freund George Talboys ­Bewunderung zu entlocken“, antwortete Robert. „Sein Herz ist in Southampton, wo ein lockenköpfiges kleines Kerlchen auf ihn wartet.“
    „Ich werde meiner Stiefmutter mit der Abendpost ­schreiben“, verkündete Alicia. „Sie hat mich in ihrem Brief ausdrücklich gefragt, wie lange ihr zu bleiben gedenkt und ob die Aussicht bestehe, dass sie ­rechtzeitig zurück sei, um euch doch noch im Court zu empfangen.“
    Während dieser Rede zog Miss Audley einen Brief aus der Tasche ihrer Reitjacke – einen hübschen, zauberhaften kleinen Brief.
    „Was für eine reizende Handschrift sie hat!“, bemerkte Robert bewundernd.
    „Ja, sie ist recht nett, nicht wahr?“, murmelte Alicia. „Schau sie dir an, Robert. Unstet ist die Schrift. Fast wie bei einem Kind.“ Sie reichte ihm das Schreiben und er betrachtete es lange mit Interesse, während Alicia ihn dabei nicht aus den Augen ließ.
    „Das ist die entzückendste, koketteste kleine Handschrift, die ich je gesehen habe. – George, sieh einmal!“
    Doch der schwermütige George Talboys war am Rande eines Grabens weiterspaziert. Ein halbes Dutzend Schritte von Robert und Alicia entfernt stand er da und schlug gedankenverloren mit seinem Stock gegen die hohen ­Binsen.
    „Macht nichts“, meinte die junge Dame ungeduldig, denn sie fand an diesem Gerede über Myladys kleines Briefchen überhaupt keinen Gefallen. „Gib mir den Brief. Es ist schon nach acht Uhr, und ich muss ihn noch mit der heutigen Abendpost beantworten. Auf Wiedersehen, Robert! Leben Sie wohl, Mr Talboys! Angenehme Reise in die Stadt.“ In leichtem Galopp entschwand die Fuchsstute auf dem Feldweg.
    Miss Audley war bereits außer Sichtweite, ehe zwei große glänzende Tränen, die ihr in die Augen getreten waren, aus ihrem zornigen Herzen flossen.

    Es war reiner Zufall, dass Robert und sein Freund doch nicht mit dem Expresszug um zehn Uhr fünfzig abreisten. Der junge Advokat wachte nämlich mit derart rasenden Kopfschmerzen auf, dass er George bat, ihm eine Tasse des stärksten grünen Tees, der jemals im Sun Inn zubereitet worden sei, aufs Zimmer zu schicken. Die Abreise musste verschoben werden.
    Erwartungsgemäß hatte George nichts dagegen. Und so verbrachte Robert Audley den Vormittag damit, in einem verdunkelten Raum zu liegen, mit nichts als einer alten Chelmsforder Zeitung zu seiner Unterhaltung.
    „Es sind nur die Zigarren, George“, sagte er. „Bring mich weg von hier, bevor ich dem Wirt begegne, denn ­sollten dieser Mann und ich noch einmal zusammen­treffen, gibt es ein Blutbad.“ Doch zum Glück war an diesem Tag Markttag in Chelmsford, und so war der ehrenwerte Wirt mit seinem Fuhrwerk aufgebrochen, um Vorräte für sein Gasthaus einzukaufen. Unter ­anderem vielleicht auch, um frischen Nachschub gerade jener Zigarren zu ­besorgen, die in ihrer Wirkung so verhängnis­voll für Robert ­gewesen waren.
    Die beiden jungen Männer verbummelten einen höchst langweiligen und stumpfsinnigen Tag. Gegen Abend schlug Mr Audley deshalb einen Spaziergang zum Court vor, wo sie Alicia bitten könnten, sie durchs Haus zu ­führen.
    „Das wird uns ein paar Stunden totschlagen. Und es wäre doch zu schade, wenn ich dich von Audley ­wieder wegschleppen würde, ohne dir das alte Herrenhaus gezeigt zu haben, das es, bei meiner Ehre, wahrhaftig wert ist, besichtigt zu werden.“
    Die Sonne stand schon tief am Himmel, als sie eine Abkürzung über die Weiden benutzten, danach über einen Zauntritt kletterten und schließlich in die Allee gelangten, die auf den Torbogen zuführte. Eine eigenartige Stille lag in der Luft, die sogar die Vögel davor zurückschrecken ließ, ein Lied anzustimmen. So still die Atmosphäre auch war, es raschelten doch die Blätter mit jener unheimlichen, zitternden Bewegung, die einen aufziehenden Sturm ankündigte. Der Zeiger der dummen Uhr, die keine Zwischenzeiten kannte und immer von einer Stunde zur nächsten sprang, zeigte noch auf die Sieben, als die jungen Männer den Torbogen durchschritten, aber es war gewiss schon beinahe acht Uhr.
    So merkwürdig es auch erscheinen mag, aber George Talboys, der nur äußerst selten irgendetwas in seiner Umgebung wahrnahm, schenkte diesem Ort zumindest ein wenig

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