Das Geheimnis der Lady Audley - ein viktorianischer Krimi
unmöglich einen großen Eindruck auf George Talboys gemacht haben, denn er saß eine Viertelstunde davor, ohne ein einziges Wort von sich zu geben. Stumm starrte er auf die Leinwand. In seiner rechten Hand hielt er den Kerzenleuchter fest umklammert, während sein linker Arm kraftlos herunterhing. So lange verharrte er in dieser Stellung, dass Robert sich schließlich bemüßigt fühlte, ihn anzusprechen.
„George, bist du eingeschlafen?“ Der Mann antwortete nicht. „Nun, durch das lange Herumstehen in diesem feuchten Zimmer mit den Wandteppichen hast du dir offensichtlich eine Erkältung zugezogen. – Nimm zur Kenntnis, Talboys, dass du dich erkältet hast. Ich nehme an, dass du heiser bist, denn ich konnte dich nicht verstehen. Also komm!“
Robert Audley nahm die Kerze aus der Hand des Freundes und kroch durch den Geheimgang zurück, gefolgt von George, der sehr still erschien, jedoch kaum stiller als sonst.
In der Kinderstube stießen sie wieder auf Alicia, die dort auf sie gewartet hatte. „Nun?“, fragte sie.
„Wir haben es großartig gemeistert. Aber ich mag das Porträt nicht. Es hat etwas Sonderbares an sich.“
„Das hat es tatsächlich“, erwiderte Alicia. „Ich habe ein merkwürdiges Gefühl bei diesem Bild. Ich bin überzeugt, dass ein Maler mitunter eine Art Eingebung hat und fähig ist, hinter dem gewöhnlichen Ausdruck eines Gesichtes einen anderen Ausdruck zu erkennen, der ebenso zu diesem Gesicht gehört, aber nicht von jedermann wahrgenommen wird. Wir haben Mylady noch nie so gesehen, wie sie auf dem Bild aussieht, doch ich glaube, sie könnte so aussehen.“
Robert schüttelte den Kopf. „Alicia! Das Bild ist das Bild, und Mylady ist Mylady! Das ist meine Art, die Dinge zu betrachten. Ich bin nicht metaphysisch veranlagt! Bring mich also nicht in Verwirrung.“
Nachdem sich Robert einen Schirm ausgeliehen hatte, für den Fall, dass der aufziehende Sturm ihn überraschen sollte, verließ er Audley Court und führte den teilnahmslos wirkenden George mit sich fort. Als sie den Torbogen erreichten, war der Zeiger der dummen alten Uhr schon auf die Neun gesprungen.
Doch bevor sie das dunkle Gewölbe durchschreiten konnten, mussten sie zur Seite treten, um einer heranstürmenden Kutsche Platz zu machen. Neugierig spähte das liebliche Antlitz von Lady Audley aus dem Fenster. Trotz der Dunkelheit konnte sie die beiden schwarzen Gestalten der jungen Männer gegen das dämmrige Licht ausmachen.
9. Kapitel
E twa eine halbe Stunde vor Mitternacht entlud sich mit fürchterlicher Wildheit ein Sturm über dem Dörfchen Audley. Robert Audley ertrug das Donnern und Blitzen mit der gleichen Gelassenheit, mit der er alle Missgeschicke dieses Lebens hinnahm. Er ruhte auf dem Sofa im Gastzimmer, las die Chelmsforder Zeitung und erfrischte sich ab und zu mit ein paar Schlucken aus einem großen Glas Punsch.
Auf George Talboys jedoch hatte der Sturm eine völlig andere Wirkung. Robert war bestürzt, als er das weiße Gesicht des jungen Mannes sah, der beim offenen Fenster Platz genommen hatte und zum schwarzen Himmel hinaufstarrte, der immer wieder durch zickzackförmige, stahlblaue Blitze zerrissen wurde.
„George, erschreckt dich der Blitz?“, fragte Robert schließlich, nachdem er ihn eine Weile schweigend beobachtet hatte.
„Nein“, antwortete sein Freund.
„Aber selbst die mutigsten Männer erschrecken manchmal vor einem Blitz. Man kann das kaum Angst nennen. Es ist eher Veranlagung.“
„Nein, ich habe mich gar nicht erschreckt.“
„George, wenn du dich selbst sehen würdest ... blass und verstört, Augen, die zum Himmel stieren, als sähen sie einen Geist. Ich sage dir, ich weiß genau, dass du dich erschreckt hast.“
„Und ich sage dir, ich habe mich nicht erschreckt!“, rief George ungehalten.
„George Talboys, du bist nicht nur erschrocken ...“
„Robert Audley, wenn du noch ein Wort an mich richtest, schlage ich dich zu Boden.“ Nach dieser Drohung eilte Mr Talboys aus dem Raum und schmetterte die Tür derart heftig hinter sich zu, dass das ganze Haus erbebte.
Jene tintenschwarzen Wolken, welche die schwüle Erde wie ein Gewölbe aus heißem Eisen umschlossen hatten, ergossen ihre Schwärze in einer plötzlichen Flut, gerade als die Tür zuschlug.
Talboys schritt geradewegs zur Eingangstür des Wirtshauses und trat hinaus auf die überflutete Hauptstraße. Beinahe zwanzig Minuten lang wanderte er im niederprasselnden Regenschauer auf
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