Das Geheimnis der Lady Audley - ein viktorianischer Krimi
Bekanntschaft des gutaussehenden jungen Witwers, Mr George Talboys, warten.
Wenn aber die arme Alicia auch nur einen Moment daran dachte, durch diese Interessenbekundung einen verborgenen Funken Eifersucht in der Brust ihres Cousins zu wecken, dann war sie mit Robert Audleys Wesensart doch nicht so vertraut, wie sie es eigentlich hätte sein sollen. Sorglos, großmütig und gleichgültig, wie er war, betrachtete der junge Anwalt das Leben als einen gar zu lächerlichen Irrtum, als dass irgendein Ereignis in diesem törichten Ablauf der Dinge von einem vernünftigen Menschen auch nur für einen Augenblick wirklich ernst genommen werden könnte.
Wenn er selbst in sie verliebt gewesen wäre, so bin ich mir doch ziemlich sicher, dass diese zarte Leidenschaft bei ihm nur als ein so vages und schwaches Empfinden zum Ausdruck gekommen wäre und am Ende seines Lebens bloß ein unbehagliches Gefühl hinterlassen würde, welches ebenso gut Liebe oder auch eine Magenverstimmung hätte sein können. Deshalb war es für Alicia völlig sinnlos, den entzückenden Reiterhut mit der Feder aufzusetzen, das Pferd zu satteln und alle Wege um Audley abzureiten, in der Hoffnung, wie zufällig auf Robert und seinen Freund zu stoßen.
Nun ist das Fischen nicht gerade die aufregendste Beschäftigung für junge Männer. Aus diesem Grunde war es kaum verwunderlich, dass die beiden am Tage nach Lady Audleys Abfahrt des Schattens der Weiden, welche die Bäche um Audley säumten, recht überdrüssig wurden.
„Tree Court ist wahrlich kein heiterer Ort während der langen Sommerferien“, bemerkte Robert nachdenklich, „aber ich meine doch, generell betrachtet, ist es dort angenehmer als hier. Man ist zumindest in der Nähe des Tabakhändlers.“ Gottergeben paffte er die abscheuliche Zigarre, die er sich beim Wirt des Sun Inn besorgt hatte.
Talboys, der dem Ausflug nach Essex nur aus gleichgültiger Nachgiebigkeit dem Freund gegenüber zugestimmt hatte, dachte natürlich keineswegs daran, gegen ihre sofortige Rückkehr nach London Einwände zu erheben.
„Ich werde froh sein, wenn wir wieder in der Stadt sind, Bob“, erklärte er, „denn ich möchte einen Abstecher nach Southampton machen. Ich habe meinen Sohn mehr als einen Monat nicht gesehen.“ Er seufzte. „Ich bin gewiss kein überspannter Mensch, Bob, und ich habe noch nie in meinem Leben eine Gedichtzeile gelesen, die mehr als soundso viele Worte und reine Wortspielerei für mich bedeuteten. Aber seit dem Tode meiner Frau fühle ich mich manchmal wie ein Mann, der auf einem langen, tiefliegenden Strand steht, während die steigende Flut langsam näher und näher kommt. Sie nähert sich nicht mit lautem Getöse und auch nicht mit gewaltiger Heftigkeit, sondern sie kriecht auf mich zu, schleicht heran, stiehlt sich näher, nur um über meinen Kopf hereinzubrechen, wenn ich es am wenigsten erwarte.“
Robert Audley starrte seinen Freund in sprachloser Verblüffung an. „George Talboys, ich könnte solche Gedanken ja verstehen, wenn du ein zu schweres Abendessen zu dir genommen hättest. Kaltes Schweinefleisch zum Beispiel, besonders wenn es nicht gut durchgebraten ist, kann Derartiges hervorrufen. Du brauchst Luftveränderung, die erfrischende Brise von Fig Tree Court. Und die beruhigende Atmosphäre der Fleet Street wird helfen ... oder, warte ...“, setzte er plötzlich hinzu. „Jetzt habe ich es. Du hast die Zigarren unseres Freundes hier, des Wirtes, geraucht! Das erklärt alles.“
Etwa eine halbe Stunde nachdem sie sich entschlossen hatten, Essex am nächsten Morgen zu verlassen, trafen sie Alicia, die auf ihrer Stute des Weges kam. Die junge Dame war sehr enttäuscht, von der Entscheidung ihres Cousins zu hören. Und gerade deshalb tat sie so, als nehme sie diese Nachricht mit völliger Gleichgültigkeit auf. „Du bist Audley aber sehr schnell müde geworden“, bemerkte sie mit gespielter Unbekümmertheit. „Aber außer deinen Verwandten im Court hast du ja auch keine Freunde hier, während du in London bestimmt die interessanteste Gesellschaft antriffst und ...“
„Dort bekomme ich vor allem guten Tabak“, unterbrach Robert seine Cousine. „Audley ist ganz bestimmt der allerliebste Ort, doch wenn ein Mann gezwungen ist, getrocknete Kohlblätter zu rauchen, weißt du, Alicia ...“
„Dann reist du also tatsächlich morgen früh ab?“
„Auf jeden Fall, und zwar mit dem Expresszug um zehn Uhr fünfzig.“
„So versäumt Lady
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