Das Geheimnis der Lady Audley - ein viktorianischer Krimi
Zimmer, das in früheren Tagen einmal ihre Kinderstube gewesen war. Den Anweisungen seiner Cousine folgend, hob Robert Audley eine Ecke des Teppichs in die Höhe, woraufhin eine einfach tiefe Falltür im Eichenboden sichtbar wurde.
„Nun höre mir zu“, begann Alicia. „Du musst auf allen Vieren in den Gang hineinkriechen. Dann musst du dich so lange geradeaus bewegen, bis du zu einer scharfen Biegung nach links kommst. Am äußersten Ende dieser Biegung triffst du auf eine kurze Leiter unterhalb einer weiteren Falltür. Diese Falltür musst du entriegeln. Sie öffnet sich im Fußboden von Myladys Ankleideraum und ist nur von einem kleinen quadratischen Perserteppich bedeckt, den du leicht beiseite schieben kannst. Hast du alles verstanden?“
„Vollkommen.“
„Dann nimm die Kerze. Mr Talboys wird dir folgen. Nach Ablauf von zwanzig Minuten erwarte ich euch hier zurück.“
Robert befolgte die Instruktionen seiner Cousine genau, und so fanden er und sein Freund George sich nach etwa fünf Minuten in der eleganten Unordnung von Lady Audleys Ankleideraum wieder. Mylady hatte das Haus in großer Hast verlassen, daher waren noch all ihre glitzernden Toilettenartikel auf dem marmornen Toilettentisch ausgebreitet. Die Atmosphäre in diesem Raum war durch die schweren Düfte der Parfüms in den Flakons schwül und fast erdrückend. Ein Strauß Blumen aus dem Gewächshaus welkte auf dem zierlichen Schreibtisch vor sich hin. Zwei prachtvolle Kleider lagen auf dem Boden, und die offenen Türen des Garderobenschrankes ließen den Blick auf die Schätze darin frei. Juwelen, Haarbürsten mit Elfenbeingriffen und Ziergegenstände aus kostbarem Porzellan waren überall im Zimmer verstreut.
Vom Ankleideraum gingen sie weiter in Myladys Boudoir und von dort in das Vorzimmer, in dem sich, wie sie von Alicia bereits wussten, neben Myladys Porträt weitere kostbare Gemälde befanden. Das Porträt von Mylady stand auf einer Staffelei in der Mitte des achteckigen Raumes und war mit einem grünen Fries bedeckt. Die beiden jungen Männer betrachteten zuerst die Bilder an den Wänden und hoben sich das unvollendete Porträt für den Schluss auf.
Inzwischen war es draußen dunkel geworden. Die eine Kerze, die Robert mitgebracht hatte, warf nur einen spärlichen Lichtschein. Beim Rundgang durch den Raum hielt er sie daher nacheinander vor jedes Gemälde. Das große Fenster, vor dem die Vorhänge nicht zugezogen waren, blickte auf einen bleichen Himmel, der von den letzten kalten Strahlen des verlöschenden Zwielichts gefärbt war. An der Fensterscheibe raschelte der Efeu mit dem gleichen unheilvollen Schauder, der schon jedes Blatt im Garten erfasst hatte und den aufziehenden Sturm ankündigte.
„Doch jetzt zum Porträt!“, sagte Robert. Die Hand schon auf das grüne Tuch gelegt, hielt er inne und wandte sich mit feierlicher Miene an seinen Freund. „George Talboys“, sprach er, „wir haben nur eine einzige Wachskerze für uns beide. Eine äußerst unzureichende Lichtquelle, um ein Gemälde zu studieren. Ich bitte daher um deine Zustimmung, dass wir das Porträt nacheinander betrachten.“
George hatte an Myladys Porträt nicht mehr Interesse als an all den anderen Übeln dieser lästigen Welt. Er zog sich zum Fenster zurück und lehnte seine Stirn gegen die Scheibe, während er in die dunkle Nacht hinausschaute.
Robert rückte die Staffelei zurecht und ließ sich auf einem Stuhl davor nieder, um das Gemälde mit Muße in Augenschein zu nehmen. „Nun bist du an der Reihe, Talboys“, sagte er nach einigen Minuten. „Es ist ein außergewöhnliches Porträt, wahrlich.“ Er nahm Georges Platz am Fenster ein.
Widerstrebend setzte sich George auf den Stuhl vor der Staffelei. Ja, der Maler musste ein Künstler sein. Nur ein wahrer Künstler konnte so die federngleiche Fülle der feinen Löckchen gemalt haben, und zwar Haar für Haar – mit jedem einzelnen Goldschimmer und jeder Schattierung darin. Ganz im Sinne Meister Raffaels erschien jedes Merkmal des zarten Gesichtes ein wenig übertrieben. Vielleicht ein wenig zu sehr, denn die helle Gesichtsfarbe im Bild hatte ein beinahe gespenstisches Weiß angenommen und in den tiefblauen Augen spiegelte sich ein seltsam unheimliches Licht wider. Der doch an sich schöne volle Mund hatte beim zweiten Hinsehen einen harten, ja, fast boshaften Ausdruck, dass man erschrecken konnte.
Doch so seltsam das Porträt auch sein mochte, es konnte
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