Das Geheimnis der Lady Audley - ein viktorianischer Krimi
und ab. Völlig durchnässt kam er ins Haus zurück und stieg die Treppe zu seinem Schlafzimmer hinauf. Das Haar klebte in seinem Gesicht und die Kleider waren triefend nass. Robert Audley stand auf dem Treppenabsatz.
„Gehst du ins Bett, George?“
„Ja.“
„Aber du hast keine Kerze.“
„Ich brauche keine.“
„Was, um Himmels willen, ist bloß in dich gefahren, in einer solchen Nacht hinauszugehen!“
„Ich bin müde und will schlafen gehen. Lass mich in Frieden.“
„Aber du trinkst doch noch einen Brandy mit mir, George, oder?“, fragte Robert mit besorgtem Gesicht und versperrte seinem Freund den Weg. Er wollte ihn auf diese Weise daran hindern, etwas Unbedachtes zu tun, denn diesen Eindruck erweckte George bei seinem Freund.
Doch George schob ihn ungestüm zur Seite, wobei er heiser hervorstieß: „Lass mich in Ruhe, Robert Audley, und halte dich fern von mir!“
Es blieb Robert also nichts anderes übrig, als Mr Talboys sich selbst zu überlassen, auf dass er seine Fassung wiedererlange, so gut es ihm möglich sei.
Der Sturm zog sich allmählich vom stillen Dörfchen Audley zurück. Als Robert am folgenden Morgen erwachte, fiel sein Blick auf hellen Sonnenschein. Zwischen den weißen Vorhängen des Schlafzimmerfensters erspähte er ein Stückchen wolkenlosen Himmels. Es war einer jener klaren Morgen, die mitunter auf einen heftigen Sturm folgen. Die Vögel sangen laut und fröhlich. Das Weinlaub, das sich um Roberts Fenster rankte, schüttelte die Regentropfen in diamantenschillernden Schauern von jedem Zweig und jeder Ranke ab.
Robert Audley kleidete sich an und ging hinunter. Dort wurde er von seinem Freund am Frühstückstisch bereits erwartet. George sah zwar noch sehr blass aus, doch er wirkte gefasst. Irgendetwas an ihm war verändert. Er wirkte beinahe so herzlich wie in unbeschwerten Zeiten. Irritiert bemerkte Robert die Veränderung im Benehmen seines Freundes.
„Verzeih mir mein schroffes Benehmen von gestern Abend, Bob“, sagte George Talboys freimütig. „Du hattest ganz recht, das Gewitter hat mich tatsächlich aus der Fassung gebracht. Schon in meiner Jugend hatten Gewitter eine solche Wirkung auf mich.“
„Armer alter Junge! – Möchtest du zurück in die Stadt oder aber hierbleiben und mit meinem Onkel zu Abend essen?“, fragte Robert.
„Um die Wahrheit zu sagen, Bob, ich will weder das eine noch das andere. Es ist ein herrlicher Morgen. Wie wäre es, wenn wir spazieren gingen oder es noch einmal mit Angelrute und Leine versuchten und erst mit dem Zug am Abend nach London zurückkehrten?“
Man war sich sofort einig. Nachdem die beiden jungen Männer ihr Frühstück beendet und ein Dinner für vier Uhr bestellt hatten, schwang George Talboys die Angelrute auf seine breiten Schultern und verließ in Begleitung seines Freundes das Gasthaus.
Das gleichmütige Naturell von Mr Robert Audley mochte zwar vom krachenden Getöse der nächtlichen Donnerschläge völlig ungerührt geblieben sein, bei der zartfühlenden Empfindsamkeit von Lady Audley aber war dies keineswegs der Fall gewesen. Sie bekannte, dass sie entsetzliche Angst vor Blitzen habe und ließ ihre Bettstatt in eine Ecke des Zimmers schieben. Man zog die schweren Bettvorhänge um sie herum fest zu. Dort vergrub sie ihr Gesicht in den Kissen und zuckte bei jedem Grollen des Gewitters zusammen. Sir Michael, dessen Herz niemals irgendwelche Furcht gekannt hatte, war in dieser Nacht in höchster Sorge um das zerbrechliche Wesen, dessen Schutz und Verteidigung doch sein beglückendes Vorrecht war. Erst gegen drei Uhr am Morgen, als der letzte nachhallende Donner hinter den fernen Hügeln verklungen war, erlaubte Lady Audley, dass man sie entkleide. Bis zu dieser Stunde hatte sie in dem prächtigen Seidenkleid, in dem sie gereist war, zusammengekauert zwischen den Bettlaken gelegen und nur hin und wieder mit verstörtem Gesichtsausdruck aufgeblickt und nachgefragt, ob der Sturm endlich vorüber sei.
Am Morgen erschien sie, eine kleine Melodie vor sich hin summend, im Frühstückszimmer. Ihre Wangen waren zartrosig angehaucht, beinahe in dem gleichen sanften Farbton wie ihr Hauskleid aus Musselin.
„Meine Schöne“, begrüßte ihr Ehemann sie. „Welch Freude, Sie wieder fröhlich zu sehen. Dem Herrn sei Dank für die Morgensonne, welche die rosigen Wangen und das freudige Lächeln zurückgebracht hat. Ich hoffe beim Himmel, dass ich Sie niemals wieder so erleben werde wie
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