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Das Geheimnis der Lady Audley - ein viktorianischer Krimi

Das Geheimnis der Lady Audley - ein viktorianischer Krimi

Titel: Das Geheimnis der Lady Audley - ein viktorianischer Krimi Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dryas Verlag
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bemerkte eine weitere Person in dem Raum. Es war eine junge Dame, die mit einer Näharbeit in Händen am Fenster saß. Robert bemerkte, dass sie George Talboys äußerst ähnlich sah, und so nahm er an, dass es sich um Georges Schwester handeln musste. Für einen Moment hoffte er, dass ­zumindest ihr das Schicksal des Bruders nicht gleichgültig sein würde. Die Dame sah auf, dabei glitt ihre Arbeit, die groß und unhandlich war, von ihrem Schoß und eine Garnrolle fiel zu Boden und rollte bis zum Rande eines Teppichs.
    „Clara!“ Mr Talboys’ Stimme war hart und kalt.
    Die junge Dame errötete. Mr Audley, den die Art des Hausherrn keineswegs einschüchterte, kniete auf den ­Teppich nieder, fand die Rolle und übergab sie der ­Besitzerin mit einem Lächeln.
    „Wenn Sie, Mr ... Mr Robert Audley“, sagte der Hausherr, wobei er einen Blick auf die Visitenkarte warf, die er zwischen Zeigefinger und Daumen hielt, „damit fertig sind, nach Garnrollen zu suchen, wären Sie vielleicht so gütig, mir zu erklären, welchem Umstand ich die Ehre ­dieses Besuches verdanke.“ Die grauen Augen streng auf den Besucher gerichtet, saß Mr Harcourt Talboys auf seinem Stuhl, die Ellenbogen auf die roten Armlehnen gestützt, seine Fingerspitzen gegeneinander gepresst. Eine Haltung, in der auch Junius Brutus dem Gerichtsverfahren seiner Söhne beigewohnt haben mochte.
    Wäre Robert Audley leicht in Verwirrung zu stürzen gewesen, dann wäre es Mr Talboys vermutlich gelungen, ihn verlegen zu machen. Doch das Gehabe des Mannes erschien Robert von außerordentlich geringer Bedeutung.
    „Ich habe Ihnen vor einiger Zeit geschrieben, Mr ­Talboys“, begann er.
    Über seine Fingerspitzen hinweg neigte Talboys den Kopf. Das Verfahren hatte begonnen. „Ich habe Ihre ­Mitteilung erhalten. Sie wurde, wie andere Geschäftsbriefe, mit einem Vermerk versehen und ordnungsgemäß beantwortet.“
    „Der Brief betraf Ihren Sohn.“ Bei dieser Bemerkung glaubte Robert ein leises Rascheln vom Fenster her zu hören. Er blickte zu der Dame, doch sie schien sich nicht gerührt zu haben.
    „Ihr Brief betraf jene Person, die vielleicht einmal mein Sohn war, Sir“, korrigierte Harcourt Talboys. „Ich muss Sie bitten, sich in Erinnerung zu rufen, dass ich keinen Sohn mehr habe.“
    „Sie haben keinen Grund, mich daran zu erinnern, Mr Talboys“, antwortete Robert ernst. „Ihre Ansichten sind mir bekannt. Ich aber habe einen schwerwiegenden Grund zu der Annahme, dass Sie tatsächlich keinen Sohn mehr haben. Es ist meine Überzeugung, dass George tot ist.“
    Mr Talboys hob seine borstigen grauen Augenbrauen und schüttelte den Kopf. „Nein“, meinte er entschieden. „Ich versichere Ihnen, nein.“
    „Ich glaube, dass George im September gestorben ist“, fuhr Robert unbeirrt fort.
    Das Mädchen, das Clara genannt wurde, hatte sich nicht gerührt, während Robert vom Tod seines ­Freundes sprach. Die sorgsam zusammengelegte Arbeit ruhte in ihrem Schoß. Sie saß mit gefalteten Händen in der Fenster­nische und blickte hinaus in den Garten.
    „Sie unterliegen einem traurigen Irrtum“, wiederholte Mr Talboys ungerührt.
    „Sie glauben, dass ich mich mit meiner Meinung, dass Ihr Sohn tot ist, im Irrtum befinde?“, fragte Robert.
    „Ganz gewiss“, erwiderte Mr Talboys mit einem Lächeln, das der Gelassenheit seiner Weisheit zu ­entspringen schien. „Sein Verschwinden war zweifellos ein geschickter Schachzug, doch nicht geschickt genug, um mich zu täuschen.“
    „Dann meinen Sie also, dass er sich vorsätzlich versteckt ... in der Absicht ...?“
    „Natürlich in der Absicht, mich umzustimmen!“, rief Mr Talboys, der stets alles auf seine Erhabenheit bezog, jedes Ereignis im Leben von diesem Mittelpunkt herleitete und es entschieden ablehnte, die Dinge von einem anderen Standpunkt aus zu betrachten. „Er weiß um die Unbeugsamkeit meines Charakters. Und er weiß auch, dass alle üblichen Versuche, meine Entscheidung zu beeinflussen oder mich von dem einmal beschlossenen Vorsatz meines Lebens abzubringen, fehlschlagen würden. Daher bedient er sich unüblicher Mittel. Er hält sich verborgen, um mich zu beunruhigen. Dann wird er, nach angemessener Zeit, zurückkehren. – Und wenn er das tut“, sagte Mr ­Talboys, sich zu hehrer Größe von seinem Stuhl erhebend, „dann werde ich ihm verzeihen. Ja, Sir, ich werde ihm ­vergeben. Ich werde zu ihm sagen: Du hast versucht, mich zu ­täuschen, und ich habe dir bewiesen, dass ich mich

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