Das Geheimnis der Maori-Frau (German Edition)
Großvater, weit über neunzig. Doch der Mann, der zuletzt hier zu Grabe getragen worden war, hatte das siebenunddreißigste Lebensjahr noch nicht vollendet gehabt, als er zu Tode kam.
Ronan.
Was hatten sie für Pläne gehabt, Ronan und er! Im Gegensatz zu seiner Mutter waren Josh und sein älterer Bruder sich darüber klar geworden, dass das wahre Potenzial Neuseelands nicht in der Schafzucht, sondern im Tourismus lag.
Jahr für Jahr kamen mehr und mehr Menschen auf der Suche nach dem Außergewöhnlichen von überall auf der Welt nach Neuseeland. Ronan und er waren sich einig gewesen, dass es ein schwerwiegender Fehler wäre, diese Chance nicht zu nutzen. Doch ihre Mutter ließ einfach alle Argumente unbeeindruckt von sich abprallen und weigerte sich, den Gedanken an Veränderungen auch nur in Betracht zu ziehen.
Trotzdem hatte Ronan nie aufgehört, daran zu glauben, dass es ihnen irgendwann gelingen würde, ihren kühnen Plan in die Tat umzusetzen. Vielleicht war es Josh deshalb so wichtig, den gemeinsamen Traum zu verwirklichen. Er wusste es selbst nicht – fest stand nur, dass er sein Vorhaben, sehr zum Leidwesen seiner Mutter, niemals aufgeben würde.
Josh atmete tief durch. Er war seit dem Tag der Beisetzung nicht mehr auf dem Friedhof gewesen. Es schien fast, als sei dieses gerade einmal fünfzig mal fünfzig Yards große Areal von einer Bannmeile umgeben, die er nicht übertreten konnte.
Rasch schüttelte er den Gedanken an Ronan ab und trieb Rock zu größerer Eile an. Kurz darauf erreichte er sein Elternhaus.
Die Farm, die sich schon seit ewigen Zeiten im Besitz der Familie Wood befand, war im Laufe der Jahrzehnte immer wieder umgebaut worden. Zu einer besonderen Schönheit hatte dieser ständige Wandel allerdings nicht geführt; dem Haus war anzusehen, dass es seinem jeweiligen Besitzer vorrangig um eines gegangen war: zusätzlichen Platz zu schaffen. Ästhetische Gesichtspunkte waren da eher zweitrangig gewesen. Das ursprüngliche Haupthaus bestand aus einem einstöckigen Gebäude aus grauem Naturstein, dessen kleine Fenster nur wenig Sonnenlicht ins Innere fallen ließen. Einige Jahrzehnte später hatte die erste Erweiterung stattgefunden:Auf dem flachen Dach des Steinhauses war eine weitere Etage errichtet worden, dieses Mal in Holzbauweise. Kurz darauf waren noch zwei flache Anbauten hinzugekommen, die sich in ihrer Architektur erneut von den bisherigen Gebäudeteilen unterschieden.
Josh schwang sich vom Sattel und führte Rock zum Stall, wo er von Danny, dem Sohn seines Vorarbeiters, in Empfang genommen wurde. Der Junge war für die Pflege der Pferde und Hunde verantwortlich.
Danny war ungewöhnlich nervös. »Mr Josh, wo haben Sie so lange gesteckt? Das Abendessen wurde schon vor einer halben Stunde aufgetragen, und Mrs Geraldine hat schon dreimal nach Ihnen gefragt!«
Ach, daher weht der Wind! Josh unterdrückte ein Schmunzeln. Armer Danny! »Sie ist dir ganz schön auf die Pelle gerückt, wie?« Unbehaglich blickte Danny zu Boden und trat von einem Fuß auf den anderen. Aufmunternd klopfte Josh ihm auf die Schultern. »Mach dir nichts draus, Kumpel. Meine Mutter hat mit ihrer überaus charmanten Natur bisher noch jeden Mann in die Knie gezwungen.« Er zwinkerte ihm verschwörerisch zu. »Ich geh dann mal, bevor der alte Drache noch anfängt, Feuer zu spucken …«
Mit großen Schritten eilte er auf das Farmhaus zu. Absichtlich verzichtete er darauf, zuerst nach oben zu gehen und sich umzuziehen, gerade weil er wusste, wie viel Wert seine Mutter darauf legte, dass sie alle bei Tisch standesgemäß gekleidet waren. Er zog sich also nur den Hut vom Kopf und klopfte sich den Staub von den dunkelblauen Jeans, ehe er ins Esszimmer trat, wo ihm gleich die Stimme seiner Mutter entgegenschlug.
»… ist wirklich eine bodenlose Frechheit! So kann man mit uns doch nicht umgehen!«
»Ist die Rede etwa von mir?«, fragte er mit einem liebenswürdigen Lächeln und blickte in die Runde.
Wie jeden Abend war die ganze Familie einträchtig am Tisch versammelt – wobei von Eintracht im Grunde keine Rede sein konnte. Joshs Mutter Geraldine besetzte den Platz am Kopf der Tafel, der normalerweise für den Hausherrn reserviert war. Doch gewissermaßen war sie das auch. Ihr Mann Nathan – Joshs Vater –, der zu ihrer Linken saß, hatte, was die Angelegenheiten der Farm oder der Familie betraf, kaum etwas zu melden.
Der Stuhl zu ihrer Rechten wurde, wie so oft, von Preston Davies besetzt. Geraldines
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