Das Geheimnis der Maori-Frau (German Edition)
ändern. Und es erschien ihm leichter, Ben zu hassen, als sich der Realität zu stellen. Im Grunde hatte er immer gewusst, dass sein Vater May Unrecht tat. Wäre er nur einmal für seine Überzeugung eingestanden, anstatt feige den Schwanz einzuziehen …
Mit Tränen in den Augen stand er noch eine ganze Weile da. Dann wandte er sich ab und ging, ohne sich noch einmal umzublicken.
6
Ein schmaler Fußweg führte seitlich an der unscheinbaren, aus Naturstein gemauerten Kirche entlang. Man betrat ihn durch ein niedriges, schmiedeeisernes Tor, das leise quietschte, wenn man es öffnete. Dahinter empfing einen grüngoldenes Sonnenlicht, das durch die dichten Blätter der Baumfarne sickerte. Wie ein Dach wölbten sie sich über den Weg und bildeten mit ihren schlanken Stämmen einen natürlichen Säulengang, an dessen Ende sich der schattige Kirchhof anschloss.
Es war still hier.
Friedlich.
Nur der Wind, der leise durch die Kronen der Südbuchen strich, war zu hören. Und das Zwitschern der Vögel. Ansonsten konnte man den Eindruck haben, vollkommen allein auf der Welt zu sein.
Jedem, der es hören wollte, berichtete der Pfarrer von der aufregenden Vergangenheit des kleinen Ortes. Über die meisten Personen, die hier auf dem Friedhof ihre letzte Ruhestätte gefunden hatten, wusste er eine interessante Geschichte zu erzählen.
Doch über das Grab ganz hinten an der verwitterten, von wilden Rosen überwucherten Mauer hüllte er sich in Schweigen.
Ein Engel aus Marmor stand dort, mit Zügen, so atemberaubend schön wie die Morgensonne. Sein gütiges Lächeln öffnete Herzen, und die ausgestreckten Hände schienen sagen zu wollen: Komm her und fürchte dich nicht.
Mitte der sechziger Jahre war die herrliche Figur aus den Vereinigten Staaten angeliefert worden – zusammen mit einer genauen Anweisung, bei welchem Grab sie aufzustellensei, und einer großzügigen Spende an die Kirchengemeinde. So viel war dem Pfarrer zu entlocken gewesen, mehr jedoch nicht.
Doch das war auch nicht nötig.
»Mein Gott, sie ist es. May …« Die Stimme von Callum Wood klang brüchig. Ungläubig schüttelte er den Kopf. Vier Wochen waren seit jener schicksalhaften Nacht vergangen, in der er endlich das Geheimnis seiner Familie ans Licht gebracht hatte. »Ben muss herausgefunden haben, wo man sie begraben hat, und diese Skulptur geschickt haben. Sie gleicht ihr wie ein Haar dem anderen. Es ist, als würde ich ihr nach all den Jahren noch einmal gegenüberstehen – doch ich bin alt geworden, während sie noch so strahlend schön ist wie an dem Tag, an dem ich sie zum letzten Mal sah.« Er kämpfte mit den Tränen und verlor. »Es tut mir so unendlich leid, was dir zugestoßen ist, May. Ich hätte dir ein besserer, ein treuerer Freund sein müssen …«
Shelly schluckte schwer. Es rührte sie zutiefst, Hal – oder Callum, wie sie jetzt wusste – so leiden zu sehen. Doch als sie zu ihm gehen wollte, um ihn zu trösten, hielt Josh sie zurück.
Erst jetzt bemerkte sie seine Mutter. Geraldine trat zu ihrem Vater und ergriff seine Hand. Sie war nicht mehr derselbe Mensch, der sie noch vor einem Monat gewesen war. Shelly konnte sich ihre erstaunliche Verwandlung nicht wirklich erklären, und ein Teil von ihr zweifelte noch immer. Doch sie hatte Josh versprochen, dass sie seiner Mutter eine Chance geben würde. Und bisher gab es keinen Anlass, an der Aufrichtigkeit der älteren Frau zu zweifeln.
Vielleicht hatte die Tatsache, dass ihr blinder Hass ihren eigenen Sohn in Lebensgefahr gebracht hatte, ihr die Augen geöffnet. Möglicherweise war es aber auch die Geschichte, die ihr Vater Callum ihnen allen an dem Abend erzählt hatte,an dem Shellys Farm beinahe in Flammen aufgegangen wäre. Die wahre Geschichte von May und Ben – dem Maorimädchen und dem Pakeha –, die jetzt endlich im Himmel miteinander vereint waren. Bis dahin hatte Geraldine wohl nur die Version ihres Großvaters gekannt – und geglaubt.
Sie hatte all ihre Taten gestanden und sich auf der Polizeiwache von Aorakau Valley selbst angezeigt. Josh und sein Großvater waren bei ihr gewesen, um ihr beizustehen. Sie würde sich verantworten müssen für all die schrecklichen Dinge, die sie im Namen der Familienehre begangen hatte. Seltsamerweise schien sie keine Angst zu verspüren. Josh glaubte sogar, dass sie sich im Grunde zum ersten Mal in ihrem Leben wirklich frei fühlte.
»Was war er für ein Mann, dieser Ingram?«, fragte Shelly leise und wandte sich an
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