Das Geheimnis der Maori-Frau (German Edition)
Blick verschleierten.
Warum habt ihr mich alleingelassen? Wieso kann ich nicht bei euch sein?
Seit jenem schrecklichen Tag vor einer Woche, an dem ihre Tante Kiri zu ihr in die Schule gekommen war, um ihr mitzuteilen, dass sie ihre Eltern niemals wiedersehen würde, stellte sie sich diese Frage beinahe ununterbrochen.
Ausgesprochen aber hatte sie sie nur ein einziges Mal.
Tante Kiri war zuerst sehr zornig und dann sehr traurig geworden. Sie hatte sich vor May hingekniet, ihre Hand genommen und mit ernster Stimme gesagt: »Sag so etwas nicht. Du lebst, und du bist jung. Und jetzt sollst du das Leben führen, das deine Eltern sich für dich gewünscht hätten. Mach sie stolz.«
Das versuchte May seitdem. Doch es war schwer, so furchtbar schwer. Ach, wenn sie doch wenigstens bei Tante Kiriund ihrer Familie bleiben könnte! Doch das winzige Haus war für die sechsköpfige Familie ohnehin schon viel zu klein, und das Geld, das Kiri als Hausmädchen verdiente, reichte kaum aus, um ihre eigenen Kinder zu ernähren.
Sie konnte sich nicht auch noch um die Tochter ihrer jüngeren Schwester kümmern.
Und so stand May an diesem warmen Maitag in ihrem Sonntagskleidchen am Grab ihrer Eltern und wartete darauf, dass die Familie ihres Vaters kommen würde, um sie zu sich zu holen.
Wie sie wohl sein würden? May war ihrem Onkel und ihrer Tante väterlicherseits noch nie begegnet. Nicht einmal bei der Beerdigung vorgestern früh waren sie gewesen.
May wusste nur, dass sie, wie ihr Daddy, Pakehas waren. Nachfahren der weißen Siedler. Keine Maori.
May zuckte zusammen, als sich von hinten eine Hand auf ihre Schulter legte. Es war Tante Kiri, die kam, um sie zu holen.
Einen Moment lang spürte May, wie die Furcht sie zu übermannen drohte. Nein, sie wollte nicht fort von hier! Wollte nicht zu diesen fremden Menschen, die weit entfernt auf der Südinsel lebten, die die Maori Te Wai Pounamu nannten.
Doch dann atmete sie tief durch, ergriff die Hand, die ihre Tante ihr reichte, und folgte ihr über den mit Kies bestreuten Weg zum Haupttor des Friedhofs. Am Straßenrand parkte eine schwarze Limousine, deren Fenster im Sonnenlicht glitzerten.
Niemand stieg aus, um sie in Empfang zu nehmen.
Tante Kiri beugte sich zu May hinunter und berührte zum Abschied mit ihrer Nase kurz die der Siebenjährigen. »Haere ra« , sagte sie mit einem etwas wehmütigen Lächeln. Dann griff sie in die Tasche ihres einfachen Baumwollkleids undholte einen kleinen Gegenstand daraus hervor, den sie May überreichte. »Hier«, sagte sie, »den soll ich dir von Anahera geben – damit du uns auch niemals vergisst.«
Es war der handgeschnitzte Pōtaka , ein Spielzeugkreisel aus Holz, um den Anahera und sie sich so oft gestritten hatten.
May wollte etwas sagen, sich bei Kiri bedanken, doch ihre Kehle war so rau, dass sie keinen Laut hervorbrachte.
»Steig ein, Schätzchen«, sagte ihre Tante, die nun ebenfalls mit den Tränen kämpfte. »Machen wir es uns nicht noch schwerer, als es ohnehin schon ist.«
May nickte tapfer und ging auf den Wagen zu. Als sie ihr Spiegelbild auf der reflektierenden Seitenscheibe erblickte, stellte sie fest, dass sie weinte.
Zur selben Zeit in Aorakau Valley
»Und ich sage, er ist schon lange nicht mehr Teil unserer Familie gewesen, Caroline! An dem Tag, an dem er die Entscheidung traf, dieses Maori-Flittchen zu heiraten und einen Bastard mit ihr in die Welt zu setzen, hat er aufgehört, Teil von uns zu sein!«
Callum, der im dunklen Korridor kauerte und durch den schmalen Spalt der angelehnten Tür in den Salon blickte, zuckte erschrocken zusammen, als sein Vater energisch mit der flachen Hand auf den Tisch schlug. Sein Herz hämmerte vor Aufregung wie verrückt. Er wusste genau, dass er in Teufels Küche geraten würde, wenn ihn jetzt jemand erwischte. Doch einfach auf sein Zimmer zurückkehren konnte er auch nicht. Nicht, solange er nicht endlich herausgefunden hatte, was eigentlich los war.
Seit Tagen war die Stimmung auf Emerald Downs angespannt,doch niemand machte sich die Mühe, Callum den Grund dafür zu nennen. Sie glaubten wohl, dass er es gar nicht merkte. Aber bloß weil er erst neun Jahre alt war, bedeutete das nicht, dass er von dem, was um ihn herum vorging, nichts mitbekam.
»Wie kannst du nur so grausam daherreden, Ingram?«, stieß seine Mutter, die in einem der tiefen Lehnsessel kauerte, schluchzend aus. Sie hatte die Hände vors Gesicht geschlagen, ihre Schultern bebten. »Der Junge ist … war
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