Das Geheimnis der Maori-Frau (German Edition)
Konfrontation mit der Familie Wood nur den Kürzeren ziehen konnte. Er würde vernünftig sein und genau das tun, was man von ihm erwartete.
Zum wiederholten Mal innerhalb der vergangenen Viertelstunde schaute Shelly auf die große Küchenuhr. Und mit jeder Minute, die verstrich, wurde sie unruhiger.
Um ein Uhr war sie mit Jonas Reardon verabredet gewesen, und nun war es bereits nach halb zwei. Sie wartete noch eine Viertelstunde, dann ging sie zum Telefon im Korridor und wählte die Nummer, die Emily ihr gestern gegeben hatte.
Zuerst meldete sich niemand, doch als Shelly gerade auflegen wollte, ging doch jemand an den Apparat. Sie war überrascht, Jonas Reardons Stimme zu hören.
»Mr Reardon? Shelly Makepeace hier. Haben Sie unsere Verabredung etwa vergessen? Ich …«
»Es tut mir leid, Miss Makepeace«, fiel Reardon ihr ins Wort. »Aus unserem Geschäft wird leider nichts. Ich habe es mir anders überlegt.«
»Aber …!« Ihr Protest wurde im Keim erstickt, als am anderen Ende der Leitung einfach eingehängt wurde. Empört starrte sie das Telefon an. Was für eine bodenlose Frechheit!
Sie versuchte noch einmal, Reardon anzurufen, doch dieses Mal meldete sich nach langem Klingeln nur der Anrufbeantworter. Sie legte auf.
Verdammt!
Emily war mit den Kindern zu ihrer Schwägerin gefahren, um Shelly bei den Verhandlungen nicht im Weg zu sein. Jetzt war niemand da, bei dem sie ihrer Entrüstung Luft machen konnte. Dabei brauchte sie so dringend ein Ventil, etwas, um sich abzureagieren!
Und dann dachte sie an den Dachboden. Sie war erst einmal dort oben gewesen – oder besser, sie hatte vorsichtig den Kopf durch die Dachluke gesteckt, ihn aber angesichts des Staubs und des Gerümpels von Jahrzehnten sofort wieder zurückgezogen.
Sie stieg nach oben ins erste Stockwerk, in dem sich Emilys und ihr Schlafzimmer sowie die Zimmer der Kinder befanden. Die Luke zum Boden befand sich an der Korridordecke. Wenn man die Verriegelung des Deckels öffnete, senkte er sich nach unten ab, und eine ausklappbare Leiter kam zum Vorschein.
Dort kletterte Shelly nun hinauf.
Als sie die nackte Glühbirne anknipste, die, abgesehen von ein paar staubblinden Fenstern, die einzige Lichtquelle des Bodens darstellte, erkannte sie gleich, dass hier oben eine Menge Arbeit auf sie wartete.
Kisten, Truhen, alte Schrankkoffer und weniger alte Umzugskartonswaren wild durcheinandergestapelt. Über allem lag eine mindestens fingerdicke Staubschicht.
Na los, sagte Shelly zu sich selbst. Du wolltest dich doch von deinem Ärger ablenken. Das ist deine Chance!
Sie öffnete die erste Truhe, die gleich neben der Dachluke stand. Der durchdringende Geruch von Mottenkugeln raubte ihr den Atem, und sie warf nur einen kurzen Blick auf den Inhalt – alte Kleider –, ehe sie den Deckel wieder zuschlug.
Als Nächstes versuchte sie etwas weiter hinten ihr Glück. Ein alter Schrankkoffer, wie man ihn früher für Überseereisen benutzt hatte, weckte ihre Neugier. Der Verschluss klemmte, und sie musste sich mit aller Gewalt dagegenstemmen. Als er schließlich aufschnappte, segelte ein Stück Papier aus dem Koffer.
Shelly bückte sich neugierig, um es vom Boden aufzuheben.
Es handelte sich um ein Foto.
Ein sehr altes Foto.
Trotz des Zwielichts, das auf dem Dachboden herrschte, erkannte Shelly in dem blonden jungen Mann, der ein wenig nervös in die Kamera lächelte, ihren Großvater. Er trug einen eleganten Frack, was Shelly überraschte, denn sie hatte ihn stets nur in bequemen Hosen und Pullovern gesehen. Auf seiner eigenen goldenen Hochzeit war er mit Abstand der am schlichtesten gekleidete Mann gewesen.
Doch es war vor allem die Frau neben ihm, die Shellys Aufmerksamkeit erregte. Sie trug ein langes weißes Kleid mit Spitzenbesätzen an den Ärmeln und am Dekolleté. Ihr Gesicht war durch einen Tintenfleck unkenntlich gemacht worden.
Shelly runzelte die Stirn. War das etwa ein Brautkleid?
Das ganze Bild sah aus wie ein Hochzeitsfoto – aber ihrGroßvater hatte ihre Großmutter doch erst kennengelernt, nachdem er Neuseeland verlassen hatte. Die Frau auf dem Bild konnte sie also unmöglich sein.
Aber wer war sie dann? Und was für eine Geschichte mochte hinter diesem Foto stecken?
3
Ohinemutu, 12. Mai 1946
Blumen bedeckten das frische Grab. Auf dem schlichten Holzkreuz stand eine kurze Inschrift: Ian und Tiana Wood – In Liebe auf ewig vereint.
Immer wieder und wieder las die siebenjährige May diese Worte, bis Tränen ihren
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