Das Geheimnis der Maori-Frau (German Edition)
wirklich keine Gesellschaft zu leisten, Cal.« May hoffte, dass man ihrem Lächeln die Nervosität nicht gleich anmerkte. »Ich weiß, dass du für deine Nachprüfung in Geometrie nächste Woche lernen musst, und ich bin gern allein draußen.«
Callum runzelte die Stirn. »Ich weiß nicht – du bist in letzter Zeit ziemlich oft ohne Begleitung im Garten. Du wirst doch keinen Unsinn aushecken, Cousinchen? Wenn Vater davon wüsste …«
»Von mir wird er es gewiss nicht erfahren«, entgegnete sie mit einem Augenzwinkern. »Und wir wissen doch beide, dass du diese Prüfung unbedingt bestehen musst, wenn du das Jahr nicht wiederholen willst.«
Seufzend fuhr Cal sich durchs Haar. »Also schön, aber geh nicht zu weit weg, ja?«
Als ihr Cousin im Haus verschwand, atmete May erleichtert auf. Geschafft! Sie musste sich beherrschen, um nicht loszurennen, so sehr sehnte sie sich danach, Bens Gesicht zu sehen.
Ben!, dachte sie glücklich. Ben, Ben – mein süßer Ben!
Seit jenem Tag vor etwas weniger als drei Wochen konnte sie kaum mehr an etwas anderes denken als an ihn. Sie wusste, dass er jeden Abend hinter dem Rosenbusch auf sie wartete, doch nicht immer hatten sie die Möglichkeit, sich zu sehen, denn Callum war fast ständig bei ihr. Sie mussten also äußerst vorsichtig sein.
May mochte Callum. Er behandelte sie stets freundlich und gab sich alle Mühe, ihr das einsame Leben oben in ihrer Kammer unter dem Dach so angenehm wie möglich zu machen.Manchmal, wenn er sie besuchte, erzählte er ihr von der Schule, von seinen Freunden und von Samstagabenden an einem Platz unten am Fluss, den die Jugendlichen im Tal U-ie nannten. Wenn sie so zusammensaßen und redeten, kam es May fast so vor, als seien sie Freunde. Aber ihr war auch klar: Cals Furcht vor seinem Vater war sehr viel größer als die Zuneigung, die er für sie empfand.
May verstand das sehr gut. Onkel Ingram ließ sich nur selten in ihrer kleinen Kammer blicken, doch jedes Mal, wenn er es tat, lief es ihr eiskalt den Rücken hinunter. Die Aura dieses Mannes war einfach furchterregend. Diese kalten Augen, die schmalen Lippen und der Ausdruck von Verbitterung in seiner Miene …
Sein Hass auf sie war trotz all der Jahre, die sie nun schon unter seinem Dach lebte, ungebrochen. Von Callum wusste sie, dass sein Vater alle Maori hasste. Für ihn waren sie Abschaum. Minderwertig.
Er hatte es seinem jüngeren Bruder Ian niemals verziehen, dass er mit einem Maorimädchen durchgebrannt war. Und dieses Maorimädchen war ihre Mutter gewesen. Sie, May – das lebende, atmende Zeugnis dieser Verbindung –, war für ihn der Inbegriff der Schande, denn in ihren Adern vermischte sich das Blut seiner Familie mit »unreinem« Maoriblut.
Das war der Grund, warum er May vor dem Rest der Welt versteckte. Und es interessierte ihn nicht im Mindesten, dass es da draußen nicht mehr allzu viele Menschen gab, die seine Sicht der Dinge teilten. Heutzutage, das wusste sie von Cal, waren Ehen zwischen Maori und Pakeha keine Seltenheit mehr. Die Kulturen wuchsen zusammen.
Doch zu allen Zeiten hatte es Menschen gegeben, die sich gegen die natürliche Entwicklung der Dinge sperrten.
Ingram Wood war einer davon.
»May?«
Als sie Bens leises Flüstern hörte, tat ihr Herz einen erfreuten Sprung. Sie beschleunigte ihre Schritte, und im nächsten Augenblick erreichte sie endlich ihren Liebsten.
Ben zog sie in seine Arme, kaum dass man sie vom Haus aus nicht mehr sehen konnte. Er strich über ihr seidiges schwarzbraunes Haar und küsste ihre Stirn und ihre Wangen. May wünschte sich, er würde sie einmal so küssen wie Ferdinand seine Luise in dem Stück Kabale und Liebe von Schiller, das sie gerade las, doch sie wagte es nicht, ihn darum zu bitten. Trotzdem war sie ein wenig enttäuscht, als er schließlich von ihr abließ. Aber als sie in sein vor Aufregung und Freude erhitztes Gesicht blickte, war aller Verdruss vergessen, und ihr Herz ging auf vor lauter Liebe zu ihm.
»O Ben, wie hab ich dich vermisst! Komm!«
Sie gingen zu der alten Eiche, deren dichte Krone fast den gesamten hinteren Teil des Gartens beschattete. An ihren mächtigen Stamm gelehnt saßen die beiden im Gras, das noch warm war von der Hitze des zurückliegenden Tages. May legte ihren Kopf an Bens Brust und lauschte dem gleichmäßigen Pochen seines Herzens.
Es waren diese flüchtigen Momente des Glücks, von denen sie in den langen Tagen ihrer Gefangenschaft zehrte. Denn nichts anders war sie im Haus ihrer
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